Ein „Jugendroman für Erwachsene“

Romandebüt Der Tübinger Autor Frank Holger Schneider schickt seinen jungen Protagonisten allein in die Sommerferien.

Ein Zugticket und ein selbstgebautes Zelt aus Müllsäcken, fixiert mit extra starkem Klebeband, und dazu ein bisschen Geld: Das ist fast alles, was der 14-jährige Enno dabeihat, als er zu seiner ersten Solo-Reise aufbricht und denkt, dass er gut vorbereitet ist. So beginnt „Ennos Tanz“, das charmant erzählte Prosadebüt des in Tübingen lebenden Autors Frank Holger Schneider. Vor kurzem stellte er seinen „Jugendroman für Erwachsene“ im Vorstadttheater in der Südstadt vor.

Ennos Eltern sind wie jedes Jahr an die Ostsee gefahren, was den Jungen schon lange anödet. Nun haben sie ihm endlich erlaubt, zu Hause zu bleiben. Es sind Sommerferien und damit viel Zeit für einen Zug-Trip durch Baden-Württemberg, wohin die Familie von der Ostsee zugezogen ist. Enno landet am Bodensee, in einer Gegend, die sich als wettermäßig unberechenbar erweist, wo wütende Einheimische unverständliche Schimpfwörter brüllen, aber auch freundliche Begegnungen möglich sind, eher mit Frauen und Mädchen.

Geschichten von Jungs, die sich ins Ungewisse aufmachen wie zuletzt „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf, faszinieren Schneider schon länger, etwa „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf, 1972 in der DDR erschienen, oder aus den USA der Genreklassiker „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger. „Das sind so jugendliche Ausreißerfiguren, die mich begeistert haben“, sagte der Autor. „Die Reise als Weg der Selbsterkenntnis spielt in all diesen Büchern eine wesentliche Rolle.“ Deshalb wollte er auch seinen Protagonisten Enno auf Tour schicken, obwohl der streng genommen gar kein Ausreißer ist. Und: Alle Vorbild-Romane haben Ich-Erzähler, die zugleich naiv und liebenswert wirken und sich auch noch häufig an scheinbare Nebensächlichkeiten halten.

Wenn Enno sich detailreich erinnert, wie eine Mitschülerin ihre Haare ordnet, dann macht er das, „weil er nicht direkt ausdrücken kann, was er empfindet“, sagte der Autor. Es ist ja auch verwirrend, dass Enno immer die nicht so beliebte Mitschülerin Marie einfällt, und eben nicht Chiara, für die alle schwärmen. Er versteht das selbst nicht. Wie ihm etliche Kapitel später ein Licht aufgeht, und zwar anhand einer erinnerten Situation aus dem Schullandheim, ist ziemlich raffiniert gestaltet.

Aber zunächst muss Enno sich ja noch auf den Weg machen. Am Morgen des Aufbruchs kocht er sich wie seine Eltern erstmal einen Kaffee, obwohl er Kaffee gar nicht mag. Denn er denkt sich, auf der Reise besser durchzukommen, wenn er möglichst erwachsen wirkt und keine irritierten Reaktionen auslöst nach dem Muster, er sei doch viel zu jung, um allein unterwegs zu sein. Für ihn selbst funktioniert die Anpassung vorerst nicht: „Der Kaffee war eklig.“ Dafür verfolgt ihn ganz wie einen Erwachsenen noch Stunden später die Frage, ob er nun zu Hause die Kaffeemaschine ausgeschaltet hat oder nicht.

Der Autor kommt aus Lübeck und gelangte über die Zwischenstation Leipzig nach Tübingen. Bisher hatte er vor allem Theatererfahrung, unter anderem vom Brechtbautheater, wo er auf der Bühne auftrat, textete und Regie führte. Zuvor arbeitete er am freien Theater Lübeck. Im Jahr 2000 hatte sein erstes Stück „Hiphop und Konfekt“ Premiere am „Theater Partout“ in Lübeck. Die szenische Erfahrung ist seinem Roman anzumerken: an der Positionierung der Figuren und den lebendigen Dialogen. Tübinger Biergarten-Gäste kennen Schneider vielleicht eher vom Neckarmüller, wo er den Sommer über das Team leitet.

Trotz des fast gleichlautenden Namens hat sein Protagonist Enno Lüttmann nichts mit dem 1958 in Tübingen verstorbenen Orientalisten Enno Littmann zu tun, der als Erster eine umfassende Ausgabe der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht auf Deutsch vorlegte. Enno ist ein Vorname aus Norddeutschland, eine Kurzform von Einhard, und bedeutet der starke Schwertkämpfer. Der Nachname Lüttmann stehe einfach für der kleine (niederdeutsch: lütte) Mann.

Info Frank Holger Schneider: Ennos Tanz. Roman, Kröner Edition Klöpfer, gebunden, 222 Seiten, 22 Euro. Live zu erleben ist der Autor wieder am Mittwoch, 5. November, um 19 Uhr im Schriftstellerhaus Stuttgart, Kanalstraße 4, Stuttgart.

Im Herz des Klangs

Konzert Ausverkaufte Stadthalle: Cellist Lionel Martin und die Württembergische Philharmonie.

Reutlingen. Mit 1200 Zuhörern komplett ausverkauft. Der Tübinger Cellist Lionel Martin gibt sein Debüt in der Reutlinger Stadthalle. Viele Tübinger sind gekommen, haben seine Auftritte und seine Entwicklung seit Kindheitstagen mitverfolgt. Nach seinem Studium bei Thomas Grossenbacher in Zürich studiert er aktuell bei Frans Helmerson an der Kronberg Academy – und war vor wenigen Wochen erst Finalist bei der renommierten Budapest Cello Competition. Am Montagabend spielt Lionel Martin erstmals das Cellokonzert von Robert Schumann, auf einem französischen Instrument von 1985 – zur Verfügung gestellt von Anne-Sophie Mutter –, auf dem schon Rostropowitsch und Yo-Yo Ma musiziert haben.

Das Schumann-Konzert ist kein Virtuosen-Bravourstück, sondern zutiefst romantische Gesamt-Kunst. Lionel Martin lässt das mit Gabe und Hingabe lebendig werden. Ein Erahnen, Erspüren, Herbeibeschwören, als fange das Cello wie von Zauberhand selbst an zu singen. Als wäre es die schöpferische Fantasie, die Poesie selbst, in deren Herz man hier hinein lauscht. Als hörte man endlich jenes magische Lied, das nach Eichendorff in allen Dingen dieser Welt schläft. Musiziert mit einer seismographisch empfindsamen, wachsam wendigen lyrischen Kraft, die sich in jedem Augenblick neu verwandeln kann, mit einer berührend offenen Seelen-Resonanz und einem wahrhaftig eigenen Ausdruck, der gebannt hören lässt, die Ohren öffnet, Unsagbares Klang werden lässt. Der langsame Satz ist ein behutsam fragiler Traum voll Wärme und Licht, ein kurzer, jenseitig entrückter Duett-Moment mit WPR-Solocellist Dong Nyouk „Sunrise“ Kim. Chefdirigentin Ariane Matiakh hält Martin überall den Rücken frei, gibt ihm Raum für eine freie, atmende Agogik, naturhaft organisch entfaltete Farben, ambivalente Umbrüche. Staunenswert synergetisch das Zusammenspiel mit der Württembergischen Philharmonie. Tosender Beifall und Bravo-Rufe. Als Zugabe musiziert Martin mit Kim ein Cello-Duo von Boccherini, dann die Allemande aus Bachs Solo-Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007.

Begonnen hatte der Abend mit Grazyna Bacewiczs rasanter Startschuss-„Ouvertüre“ von 1943. Fünf Minuten turbulente Vorfreude, ein alles mit sich reißender Höchstgeschwindigkeitslauf, schmetternd und bebend. Großartig hochpräzise. Ein toller, einstimmender Auftakt.

Bei Brahms’ 2. Symphonie zuletzt hob Matiakh das überraschend Moderne hervor: eine geradezu minimalistische Motorik, die hier Harmonik und Melodik hervortreibt. Sahen Schönberg und Bartók doch zu Recht in Brahms einen „Fortschrittlichen“, einen Vordenker der Moderne.

Ein Lächeln von Schubert

Konzert Violinistin Sara Schlumberger-Ruiz und Capella Tübingen erinnerten an den einst berühmten Viotti.

Tübingen. Bei ihrem jüngsten Projekt kooperierten die 25 Streicher der Capella Tübingen (bis 2018 der „Tübinger Kammermusikkreis“) mit dem SinfoNeA-Orchester, vertreten durch zwölf Bläser: je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, Trompeten und Hörner. Bei Haydns später Sinfonie Nr. 102, 1795 für London komponiert, entwickelte sich ein klangvoll sinfonisches Miteinander, pointiert musiziert. Stilvoll, gepflegt der Streicherklang. Das Adagio ein schattiges Idyll, das schon Beethoven vorausahnen ließ: selig weich schaukelnde Rhythmen über einem samtigen Klangteppich. Rustikal stramm das Menuett, durchaus modern mit seinen blockhaft getakteten Tanzschritten. Transparent die imitatorisch verästelten Staccato-Einsätze im Presto-Finale.

Gewohnt charmant, informativ und anekdotenreich führte Dirigent Jochen Brusch durchs Programm am Samstag in der Martinskirche (und am Sonntag in der Dettenhäuser Johanneskirche).

Am innigsten musiziert Schuberts Ballettmusik Nr. 3 zu Helmina von Chézys Drama „Rosamunde“: schwebende Bläser-Soli über einem melancholisch sanften Streicher-Puls und pochendem Pizzicato-Bass. „In typischem Schubert-Dur“, so Brusch: „ein Lächeln über alle Trauer hinweg“.

Giovanni Battista Viottis Concerto Nr. 22 von 1803 (das 22. seiner insgesamt 29 Violinkonzerte) war im 19. Jahrhundert eins der meistgespielten neben Beethoven, Spohr und Mendelssohn – und das Lieblingskonzert von Brahms. „Einst weltweit gespielt, wirkt es heute fast wie eine Wiederentdeckung“, so Brusch. Wie schon bei ihrem Capella-Debüt 2022 begeisterte die Geislinger Violinistin Sara Schlumberger-Ruiz – Studentin bei Anke Dill in Stuttgart – mit lyrisch zarter Klangschönheit und mühelos unforcierter Virtuosität (Solo-Kadenzen von Joseph Joachim). Rund und voll das Timbre ihrer romantischen Vuillaume-Violine. Bravouröse Verve im Finale, aufmerksam begleitet vom Orchester (Konzertmeisterin: Christina Kessler). Ein wunderbar synergetisches Zusammenspiel. Für den kräftigen Beifall der 100 Zuhörer bedankte sich Schlumberger-Ruiz mit einer detailfein ausdifferenzierten Zugabe: Fritz Kreislers „Recitativo e Scherzo-Caprice“.

Inzwischen kann Capella Tübingen auf eine über 80-jährige Geschichte zurückblicken, im Kriegswinter 1944 von der Tübinger Sopranistin Herrad Wehrung und ihrer Schwester Leonore Wehrung gegründet, seinerzeit noch als Haus-„Orchesterle“. Neben dem Akademischen Orchester das dienstälteste (Streich-)Orchester Tübingens, das sich immer über neue Mitspieler freut.

Rock in der Shedhalle

Tübingen. In der Tübinger Shedhalle bringen am Donnerstag, 23. Oktober, „Giöbia“ aus Italien ihren Acid-Psychedelic-Rock auf die Bühne. Und die Tübinger Band Gecko Revolta machen psychedelischen Indierock. Beginn ist um 20.30 Uhr, Einlass von 20 Uhr an. Eintritt gegen Spende.

„An jenem mystischen Tag, an dem der Rock der 60er-Jahre auf den neopsychedelischen Rock traf und sich so sehr vermischte, dass sie das Bewusstsein für ihr eigenes Wesen verloren, entstand Giöbias acid-psychedelischer Rock“, wie es in der Ankündigung heißt. „Ein überwältigender und unaufhörlicher Soundtrack mit unverkennbar italienischem Flair.“ Und weiter: „In einem Strudel, aus dem es kein Entkommen gibt, entführen die einzigartigen Melodien dieses Quartetts den Zuhörer in eine Welt, in der die Grenzen der Realität nicht mehr definiert sind und alles möglich ist.“ Nach ihrem Debüt im Jahr 2009 etablierten sich Giöbia 2013 „endgültig und gelangten plötzlich auf die wichtigsten Bühnen Europas“.

Gecko Revolta dürften Tübinger Musikfans aus anderen Konstellationen bekannt sein. Nun feiert die Band in dieser Formation ihre Premiere in der Shedhalle. „Gecko Revolta destillieren psychedelischen Indierock zu etwas Eigenem – dynamisch, detailverliebt, mit klarer Kante. Ihre Stücke sind sorgfältig gebaut, ohne kontrolliert zu wirken: eingängige Harmonien, charismatischer Gesang, drückender Bass, verspieltes, treibendes Drumming, ausgefeilte, tragende Gitarrenriffs und Tasten, die zwischen Wärme und Wahnsinn pendeln.“ Der Sound trägt, bricht auf, zieht an – kontrolliert und doch ständig kurz vorm Entgleisen. Gecko Revolta kleben an keiner Wand, sie laufen quer durch die Genrearchitektur, kopfüber und zielsicher.

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