Depressionen und Wahnvorstellungen

  • Am Amtsgericht wurde jetzt gegen einen 71-Jährigen verhandelt, der versucht hatte, sich und den Freund seiner Tochter umzubringen. Foto: Norbert Leister

Reutlingen Ein 71-jähriger Mann musste sich der Anklage vor dem Amtsgericht stellen, weil er sich und seinen Schwiegersohn in spe „in den Himmel bringen“ wollte. Die Schuldfähigkeit war nicht gegeben.

Fast die gesamte Verhandlung saß der Angeklagte am vergangenen Montag mit gesenktem Kopf im Saal des Reutlinger Amtsgerichts, immer wieder kamen ihm die Tränen. Ob er den Ausführungen des Schöffengerichts, des Staatsanwalts und des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Heiner Missenhardt folgen konnte, war nicht ersichtlich.

Vor Gericht saß der Mann, weil er am 10. September vergangenen Jahres auf der B 27 zwischen Stuttgart und Tübingen mit einem Pkw fuhr. „Auf Höhe der Abfahrt zur B 464 begann der Angeklagte, anderen Fahrzeugen zu dicht aufzufahren, mit bis zu 190 Stundenkilometern hat er Autos überholt“, zitierte Staatsanwalt David Schwarz aus der Anklage. Der 71-Jährige habe damals seinen eigenen und den Tod seines Beifahrers im Sinn gehabt.

„Ich nehme dich mit in den Himmel“, soll der Angeklagte gerufen haben. Steuerbewegungen nach links und nach rechts hätten zu heftigem Schaukeln des Fahrzeugs geführt, auf der Höhe des Baggersees Kirchentellinsfurt kam das Fahrzeug von der Fahrbahn ab und blieb in einer Natursteinmauer hängen. Beide Autoinsassen mussten stationär ins Krankenhaus, sie kamen aber mit verhältnismäßig leichten Verletzungen davon. Angeklagt werde er nun, weil er den Straßenverkehr vorsätzlich beeinträchtigt und Leib oder Leben von anderen Personen gefährdet hatte.

Vater war depressiv

Interessant sei nach den Worten des Sachverständigen das Verhalten des Fahrers nach dem Unfall gewesen, denn er sei laut schreiend auf den Fahrbahnen herumgerannt. Wie es dem Vater damals ging, berichtete die Tochter: Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus, was ihr offensichtlich schon seit vielen Monaten auf der Seele brannte:  Ihr Vater sei depressiv, habe nach einer Diabetesdiagnose nichts mehr essen wollen, an die 15 Kilogramm abgenommen.

Kaum Schlaf, zu nichts habe er sich aufraffen können, antriebslos sei er gewesen, hinzu kamen wahnhafte Vorstellungen. „Er sagte, der Teufel sei heute Nacht neben ihm gelegen, dann hat er die Matratze aus dem Haus gebracht, weil der Teufel da drauf lag“, so die Tochter. „Irgendwann habe ich erkannt, was es heißt, jemand hat den Verstand verloren.“ Denn genau das sei ihrem Vater passiert: Er hab den Verstand – und sich selbst – verloren.

Arztbericht fällt eindeutig aus

Doch nicht nur der Vater, auch sie und die ganze Familie seien am Ende gewesen. „Nach dem Unfall bin ich ins Krankenhaus, habe ihm über den Kopf gestreichelt und gesagt, was ist nur mit deinem Kopf“, so die Tochter. Der Vater habe daraufhin gesagt: „Dem geht’s gut, der kommt heute Abend wieder.“ Das sei nicht ihr Vater gewesen, „er war intelligent, aber mein Vater war weg“, sagte die Tochter.

Heiner Missenhardt zog als Sachverständiger ein eindeutiges Fazit: „Die Angaben aus dem Arztbericht und der Tochter ergänzen sich gut, ich kann eine eindeutige Schlussfolgerung zum Tatzeitpunkt ziehen.“ Der Mann habe unter „schweren depressiven Episoden gelitten, unter Angst, Aussichtslosigkeit, Antriebsverlust“. Hinzu kamen psychotische Symptome wie Wahnvorstellungen mit dem Teufel. Aus dem Arztbrief zitierte der Psychiater in der Verhhandlung, dass der Angeklagte während des zweimonatigen Aufenthalts in der Psychiatrie auf einen Schrank gestiegen sei und sich von dort kopfüber hinuntergestürzt habe.

Der Sachverständige bezeichnete das Verhalten des Mannes als „schizoaffektive Störung mit schwerer depressiver Symptomatik“. Erst Neuroleptika und Antidepressiva hätten ihm geholfen. Die Tat mit dem Auto sei sicher eine Folge einer Suizidabsicht gewesen, in einem Zustand, in dem er nur noch sich selbst gesehen habe. Seine Einsichts- und seine Schuldfähigkeit sei zum Tatzeitpunkt nicht vorhanden gewesen, so Missenhardt. Die Prognose für den Mann falle nun allerdings gut aus, wenn er regelmäßig seine Medikamente nehme.

Der 71-Jährige lebe nun wieder in seiner Heimat in Italien, dort gehe es ihm gut, bereichtete die Tochter gegenüber dem Gericht. Staatsanwalt, Verteidiger Steffen Kazmaier und auch das Schöffengericht waren sich einig, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt nicht schuldfähig war. Die Fahrerlaubnis bleibe allerdings eingezogen, in zwei Jahren könne er erneut einen Führerschein beantragen, sagte Richter Eberhard Hausch.

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