Der Himmel wird abgeschafft
Premiere Mit darstellerischer Verve und viel Liebe zum Detail inszeniert die Reutlinger Tonne unter der Regie von Enrico Urbanek Brechts Klassiker „Leben des Galilei“.
Den wissenschaftlichen Aufbruch Anfang des 17. Jahrhunderts bringt Bertolt Brechts im Zweiten Weltkrieg entstandenes Stück „Leben des Galilei“ auf die Bühne. Der berühmte Astronom baut nach holländischem Vorbild ein Fernrohr und entdeckt damit am Nachthimmel Beweise dafür, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Schon Kopernikus hatte das sogenannte Ptolemäische Weltbild samt dessen aristotelischer Sphärenmusik rechnerisch widerlegt, aber die praktischen Beweise lieferte erst Galilei. Dieser bekommt es im Stück wegen seiner bahnbrechenden Erkenntnisse prompt mit der Inquisition der katholischen Kirche zu tun.
Die Tonne inszeniert Brechts modernen Klassiker, der 1943 in Zürich uraufgeführt wurde, mit viel Liebe zum Detail, historisierenden Kostümen und reichlich Musik. Schauspieler und Musiker Michael Schneider hat den damaligen Soundtrack von Hanns Eisler neu bearbeitet. Nun mischen sich mehrstimmige Renaissance-Klänge a cappella mit Bänkelsang und fast schon atonalen Einsprengseln.
Galileo muss widerrufen
Die Bühne verläuft als länglicher Streifen, das Publikum sitzt an dessen Längsseiten. Bühnenbildnerin Sibylle Schulze hat an den Stirnseiten zwei Türen mit Kreuzaufdrucken eingebaut. Von der einen Stirnseite betreten Galilei und sein Volk die Bühne, gegenüber kommen Promis wie der Großherzog und der Papst ins Spiel. Die Darsteller machen zugleich Musik, von einem Podest über dem rechten Bühneneingang herab. Auf den Bühnenboden projizieren die Lichtkünstler von Casa Magica Sternenkarten, alte Buchdrucke, Skizzen von Bewegungen der Himmelskörper sowie den Nachthimmel.
Hauptdarsteller David Liske arbeitet gut den Zwiespalt Galileis zwischen Lebensgenuss und wissenschaftlicher Berufung heraus. Zunächst schafft er mit seinen Beobachtungen förmlich den Himmel mit Gott und seinen Engeln ab – seine Freunde ziehen Parallelen zu Giordano Bruno, der zehn Jahre zuvor wegen solcher Erkenntnisse als Ketzer verbrannt worden ist. Jahrelang legt Galilei zunächst seine Forschungen auf Druck der Kirche ad acta. Dann wird ein Wissenschaftler neuer Papst – und der Astronom startet einen weiteren Anlauf, das kopernikanische Weltbild zu beweisen.
Der Hofastronom Clavius bestätigt Galileis Forschungen. „Stimmt!“, raunzt Bahattin Güngör als Clavius. Doch die Inquisition sitzt am längeren Hebel. Galilei muss widerrufen. Die letzten Lebensjahre verbringt er auf einem Landgut unter steter Kontrolle der Kirche. Dennoch gelingt es ihm schließlich, seinem Schüler Andrea Sarti die fertig geschriebenen „Discorsi“, sein Hauptwerk, mit auf den Weg in die Welt zu geben.
Trotz starker Kürzungen baut Tonne-Intendant und Regisseur Enrico Urbanek viele Hauptstränge des Stücks ein: Seine Inszenierung beschreibt mit drohendem Getrommel und Kunstnebel die Pest in Florenz, ein Höhepunkt ist der balladeske Karneval mit schmetterndem Bänkelsang. Doch die eigentliche Stärke dieses Abends ist eine geschlossene Ensembleleistung. Rollifahrer Santiago Österle glänzt als Galileis getreuer Schüler Andrea. Magdalena Flade spielt einfühlsam dessen Mutter, die Haushälterin des Astronomen, und bläst nebenbei virtuos Blockflöte. Rupert Hausner ist ein so eloquenter wie teuflischer Inquisitor, Magnus Pflüger gibt neben einem knitzen Hochschul-Kurator ausdrucksstark einen kleinen Mönch, der um den Glauben seiner armen Eltern bangt, wenn sich Galileis Erkenntnisse durchsetzen. Und Roswitha John verkörpert mit bemerkenswerter Sprachkraft unter anderem den neuen Papst Urban VIII.
Antje Rapp stellt Galileis treusorgende Tochter Virginia dar, Aaron Smith spielt unter anderem deren Verehrer Ludovico, der angesichts der Forschungen des Brautvaters von der geplanten Hochzeit wieder abspringt. Schneider gibt mit pfiffigen Dialektsprachen etwa einen alten Kardinal und einen Zeremonienmeister. Wie er übernehmen die meisten Darstellenden mehrere Rollen, was stellenweise die Aufnahmefähigkeit des Publikums ziemlich in Anspruch nimmt.
Brechts Stück ist freilich mehr als ein Hohelied auf die Fähigkeiten der Wissenschaft und die gesellschaftliche Relevanz des Zweifels. Angesichts der damaligen Atombomben-Abwürfe der USA auf Hiroshima und Nagasaki in Japan baute Brecht in spätere Bearbeitungen seines Stücks eine eindrückliche Reflexion über die Verantwortung von Wissenschaftlern ein. Mit dieser galligen und selbstkritischen Analyse Galileis endet die Inszenierung nun. Während sich unter seinem Fußboden die Sterne ausbreiten und langsam verblassen, schreitet der Protagonist zum Abendessen. Brecht hatte noch ein optimistischeres Schlussbild geschrieben, in dem Andrea die Discorsi mit viel Glück über die Grenze schmuggelt – aber der gewählte Schluss passt nicht minder gut zum zuvor in gut zwei Stunden aufgebauten Diskurs über die Stärken und die Grenzen der Wissenschaft.