Ein Pisswetter war das. Na ja, Caracciolawetter. Er grunzte auf. Da war ihm ja selbst mal ein guter Scherz in den Sinn gekommen. Gegen den Regenmeister konnten jedenfalls Hans Stuck und Bernd Rosemeyer keinen Stich machen. Waren schon ausgefallen. Nach knapp vier Stunden würden es die Silberpfeile nun unter sich ausmachen. Das übrige Feld war ohnehin nur Staffage. Bugatti, Maserati. Alfa Romeo? Lachhaft.
„Wo bleibt denn der Clemens?“
Seine Worte wurden vom Gebrüll verschluckt, denn jetzt fegte Manfred von Brauchitsch über die Gerade. Vierhundertfünfzig Pferde. Wie einen Mann riss es die Menge aus den Sitzen. Als der Silberpfeil außer Sichtweite war, stand Clemens Jungheinrich wieder am Platz, drei Gläser vor der Brust. Zwei Bier und eine Kräuterlimonade für Otto, wie üblich. Und ohne das Gefrotzel, das er sich wegen seiner Abstinenz von den Parteigenossen ständig anhören musste.
Aus den Lautsprechern blecherte eine Stimme. Caracciola, Brauchitsch und Nuvolari gleichzeitig in der Box.
„Der Italiener fährt noch mit?“, wunderte sich Jungheinrich.
„Für den hat der Duce beim Führer ein gutes Wort eingelegt!“, mutmaßte Otto und tätschelte den freien Platz neben sich: „Setz dich wieder her, Clemens!“
Jungheinrich war ein feiner Kerl. Zu fein vielleicht für diese eher volkstümliche Veranstaltung hier, dachte Otto. Tagein, tagaus zerbrach er sich im Kontor seiner Fabrik den Kopf. Über finnische Fichten und polyfluorierte Alkylsubstanzen. Über die Anschaffung neuer Maschinen und das Verlegen neuer Gleise zu seinen Werkshallen. Über die Pensionen seiner Mitarbeiter und den Absatz seiner Produkte. Über den ganzen Kladderadatsch, den Otto seinem Geschäftsführer überlassen hatte, seit er in die Politik gegangen war. Aber für die Jungheinrich GmbH & Co. KG kam ein solches Arrangement nicht in Frage. Das Unternehmen war seit zwei Generationen in Familienbesitz. Clemens war die Firma. Guter Kerl, der mit Eugen die Liebe zur Literatur teilte. Damals schon, im Schützengraben. „Ohne mein Papier kein Eichendorff“, sagte der Clemens gerne. Vergangenes Jahr war er es gewesen, der die Bruderschaft nach Berlin gelotst hatte. In den „Sommernachtstraum“ von Mendelssohn, Furtwängler am Pult, den er gerne noch hören wollte, „bevor ich völlig taub werde“. Otto waren bei dem Gebratsche und Gefiedel immer wieder die Augen zugefallen. Wieso wurde im neuen Deutschland noch immer jüdische Musik gespielt? Leuchtete ihm nicht ein.
Wütend heulten die Motoren wieder auf. Wie Projektile schossen die Silberpfeile aus der Box, der Reihe nach. Nur der Alfa Romeo ließ auf sich warten. Typisch. Die Anzeigetafel verkündete, dass Nuvolari mehr als zwei Minuten verloren hatte und auf den sechsten Platz zurückgefallen war.
„Organisation! Das können die Italiener einfach nicht!“, verkündete Otto. „Aber Opern schreiben“, bemerkte Jungheinrich, „das können sie.“ Und Eugen mit einem mitleidigen Blick: „Wagner. Mehr sage ich nicht.“ Jungheinrich nippte an seinem Bier: „Mehr fiele dir auch nicht ein, du Banause! Ohne den Reichtum gerade der ernsten italienischen Oper …“
Otto ließ den Blick über die Menge schweifen: „Hört auf zu zanken, Kameraden!“
Sport interessierte ihn eigentlich ebenso wenig wie Musik. Aber die Zeitungen waren voll mit all den Namen und Hymnen auf „die Männer in Leder“ in ihren „gefürchteten Nationalrennwagen“, erdacht von „genialen deutschen Technikern und Ingenieuren“. Aerodynamik. Neue Wissenschaft. Gelesen hatte Otto davon mit Skepsis. Was halt so in der Zeitung steht. Wenn er sich aber umschaute, konnte er nicht umhin, sich von der fiebrigen Atmosphäre anstecken zu lassen. Ihm leuchtete ein, dass Leibesübungen jeder Art durchaus der Ertüchtigung dienten. Vermutlich galt das auch für den Lärm, die Abgase, das Benzin und die Bratwürste hier. Und all die Köpfe. Da musste er irgendwie rein, der Wille zum Sieg. Und war es nicht ein beeindruckendes Menschenmeer? Wartende Mechaniker unten in den Boxen. Graue Piste der Rennstrecke mit dunklen Flecken dort, wo die Pfützen noch nicht getrocknet waren.
Fortsetzung folgt
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