101.000 Hafttage gespart
Justiz Wie säumige Geldstrafenschuldner in Baden-Württemberg davor bewahrt werden, im Gefängnis eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen zu müssen.
Im Oktober 2023 droht H.T. (Name von der Redaktion geändert), in einen Teufelskreis zu geraten. Er ist ohne Führerschein Auto gefahren, von der Polizei erwischt worden – eine Straftat, für die oft eine Geldstrafe verhängt wird. Das Gericht stellt ihm schließlich den Strafbefehl zu: 831 Euro. H.T. hat zwar einen festen Arbeitsplatz, verdient aber sehr wenig. Und er spricht kaum Deutsch. Behördenschreiben, in denen Zahlungsfristen oder mögliche Ersatzmaßnahmen im Juristendeutsch formuliert sind, versteht er schon gar nicht. Die Post vom Gericht und weitere schriftliche Hinweise und Aufforderungen lässt er deshalb unbeantwortet in der Ecke liegen. Dass ihm ersatzweise 15 Tage im Gefängnis bevorstehen, wenn er nicht schnellstens bezahlt, ist ihm nicht klar. Dabei wäre das für ihn fatal: Käme er hinter Gitter, könnte er seinen Arbeitsplatz verlieren, hätte kein Einkommen mehr, könnte seine Wohnung nicht mehr bezahlen.
Aber H.T. hat Glück, denn er lebt in Baden-Württemberg. Hier gibt es ein Projekt der Gerichtshilfe, das sich genau um solche Fälle kümmert und Wege sucht, um einen Gang ins Gefängnis zu verhindern. Das ist nicht nur für die Straftäter gut, sondern auch für den Staat. Schließlich kostet jeder Hafttag das Land aktuell rund 180 Euro. Im Fall von H.T. würden bei der Justiz durch die Ersatzfreiheitsstrafe allein 2700 Euro an Unterbringungskosten anfallen, ohne dass auch nur ein Cent der Geldstrafe bezahlt wäre.
Als im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein Mitarbeiter der Gerichtshilfe persönlich bei H.T. auftaucht und ein Verwandter als Übersetzer einspringt, klärt sich die Lage schnell auf. Die Gerichtshilfe schlägt eine Lösung vor, der auch die Staatsanwaltschaft zustimmt: Er kann die 831 Euro Geldstrafe in kleinen monatlichen Raten über einen längeren Zeitraum abstottern. Ihm bleibt die Haft erspart, das Land spart sich die Kosten für seine Unterbringung im Gefängnis. Einer von über 28.600 Fällen, mit denen sich das Justiz-Projekt „Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch aufsuchende Sozialarbeit“ in den vergangen fünf Jahren befasst hat.
Nach einjähriger Testphase war das Projekt im November 2020 landesweit installiert worden. Dabei beauftragen die Staatsanwaltschaften in möglichen Problemfällen die Bewährungs- und Gerichtshilfe Baden-Württemberg (BGBW), auf Basis von ein oder zwei Hausbesuchen Berichte über den finanziellen Hintergrund der Verurteilten zu erstellen. Erklärtes Ziel: Schuldner wie H.T., die oftmals in ihrer persönlichen Lebenssituation überfordert sind, zu Hause aufzusuchen und mit ihnen einen Ausweg zu vereinbaren. Das können Ratenzahlungen sein, aber auch die Ableistung der Geldstrafe über gemeinnützige Arbeit.
Nach knapp fünf Jahren hat das Justizministerium nun Bilanz gezogen. Die Zahlen liegen der „SÜDWEST PRESSE“ vor. Demnach wurden in Baden-Württemberg im Rahmen des Projekts zwischen November 2020 und Ende März 2025 über 14.300 Betroffenen bislang rund 101.000 Hafttage erspart – und dem Land damit Unterbringungskosten von überschlägig rund 18 Millionen Euro. Tendenz: Die Zahl der Fälle, in denen Haftstrafen vermieden werden konnten, stieg seit Beginn des Programms stetig von Jahr zu Jahr. Die Erfolgsquote dieser aufsuchenden Sozialarbeit ist relativ hoch: In mehr als 50 Prozent der Fälle wird die Ersatzfreiheitsstrafe vermieden.
„Die Menschen, die ihre Geldstrafe nicht zahlen, bleiben in vielen Fällen aus reiner Überforderung oder aus Unkenntnis der Tilgungsmöglichkeiten untätig. Wir wollen Ersatzfreiheitsstrafen möglichst vermeiden, weil auch schon kurze Gefängnisaufenthalte große Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben und beim Staat hohe Kosten verursachen“, sagt Justizministerin Marion Gentges (CDU). Zudem müssten Menschen ins Gefängnis, die gar nicht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden.
Die Nichtbezahlung einer Geldstrafe dürfe zwar nicht folgenlos bleiben, so Gentges. „Sonst würde die Geldstrafe ihren Sanktionscharakter verlieren. Aber klar ist auch: Die Ersatzfreiheitsstrafe muss das letzte Mittel sein.“ Für Gentges ist das Projekt daher ein voller Erfolg. „Und zugleich entlastet das Projekt den baden-württembergischen Justizvollzug, der derzeit stark ausgelastet ist“, so die Justizministerin.
Zugleich entlastet das Projekt den Justizvollzug in Baden-Württemberg. Marion Gentges (CDU) Landesjustizministerin