Mehr Zeit für das Kalb
Mutter-Kind-Zeit für Kühe? Milchviehbetriebe, die die Kälber länger bei den Mutterkühen lassen, haben zwar viel Arbeit, profitieren aber auch davon. Das zeigt ein Besuch auf dem Talhof in Heidenheim an der Brenz, der nach biodynamischen Prinzipien bewirtschaftet wird.
Es ist 6 Uhr morgens. Die Sonne richtet ihre Scheinwerfer auf die Weide beim Heidenheim Talhof, einem Aussiedlerhof im engen Ugental in Baden-Württemberg. Einem Hof, der mit mehr als 93 Jahren einer der ältesten Demeter-Höfe Deutschlands ist. Wie immer, im Sommer, hat die Kuhherde über Nacht draußen campiert. Als Landwirt Rüdiger Spiegel (55) kommt, stehen die ersten auf. Sie wissen es ja ganz genau – ihre Euter sind prall, gleich werden sie entlastet: Die einen gemolken; an den Zitzen der anderen hängt der Nachwuchs: Gleich ist Mutter-Kind-Zeit!
Die Mütter betreten den Freiluft-Laufstall, ihre Kälber zuckeln aus dem Stall. Sie steuern ihre Mütter an. Die meisten Kälber sind braun-weiß gescheckt, manche haben noch ein wuscheliges Fell: Fleckvieh-Kühe in allen denkbaren Ausprägungen. Ob da der Vater nicht doch ein Pudel war? Hörner, wie ihre Mütter, haben sie noch keine. Die meisten Kälber sind drei Wochen alt. Ihre erste Lebenswoche haben sie mit ihrer Mutter in der Abkalbebox verbracht: Zweisamkeit, sich kennenlernen, verhätschelt werden – noch nicht alleine in einer Gruppe bestehen müssen. Nach dieser ersten Woche sind sie zu den anderen jungen Kälbern in die Gruppe gekommen. Jetzt treffen sie ihre Mutter um 6 Uhr und um 16.30 Uhr.
Eine Kuh sucht noch verwirrt ihr Junges. Das fremde Kalb, das ständig ihr Euter anpeilt, soll bitteschön weg. Vielleicht später … Dann: gefunden! Ihr Kälbchen dockt an und trinkt und trinkt und trinkt. Hinterher ist Zeit zum Schmusen und Belecken. Ganz junge Kälbchen saufen etwa acht Liter am Tag. Die, die schon drei Monate alt sind, bis zu zwölf Liter. Mehr, als sie auf anderen Höfen dürfen.
Dabei ist jeder Liter Milch bares Geld. Rüdiger Spiegel und seine 54-jährige Frau Martina könnten daraus in einer Käserei mehr Käse, Quark und Joghurt machen. Oder die Milch direkt verkaufen, am 24-Stunden-Milchprodukte-Automat auf dem Hof oder in den regionalen Supermärkten. Damit die Milch in unserem Müsli oder Eis, in unserem Cappuccino, Kakao oder Kuchen landet. Wir dürsten nach Muttermilch – auch wenn wir die unserer eigenen Mutter schon nach ein paar Monaten nicht mehr trinken.
Die meisten Höfe – egal ob konventionell oder bio – trennen direkt nach der Geburt die Mutterkuh von ihrem Kind, das sie neun Monate lang ausgetragen hat. So können die Landwirte mehr Milch verkaufen und die Kälber gewöhnen sich erst gar nicht ans Euter. Auch nicht an ihre Mutter. Bindung entsteht nicht und die Landwirte müssen dann nicht mühevoll und mit viel Einfühlungsvermögen die Kälber nach drei Monaten abstillen und von ihrer Mutter entwöhnen. Wenn das Kalb direkt vom Menschen versorgt wird, durch energiereiches Kraftfutter und Milchersatz – und deren Mutter den Menschen versorgt, dann ist vieles einfacher. Rüdiger Spiegel: „Dann gibt’s kein Gemuhe und nur einen kurzen Schmerz für Mutter und Kalb.“
Bei den Spiegels soll es aber trotzdem tiergerechter zugehen. Deshalb werden die Kälber nach drei Monaten seltener zur Mutter gelassen, trinken irgendwann am Euter einer Amme mit und werden langsam an Gras und Heu gewöhnt. Denn der Pansen hat sich dann langsam gut genug entwickelt.
Starke regionale Unterschiede
„Mutterkuh- und Ammengebundene Kälberaufzucht“ heißt das Konzept, das Martina und Rüdiger Spiegel auf ihrem Talhof mit den fast 30 Kühen seit nun drei Jahren durchziehen. Rund 45 Höfe in Baden-Württemberg haben mittlerweile darauf umgestellt. In anderen Bundesländern sind es weitaus weniger. 2019 haben die „Demeter HeuMilch Bauern“ und der Nutztierschutzverein „Provieh“ in Süddeutschland ein eigenes Siegel für die kuhgebundene Kälberaufzucht ins Leben gerufen: „Zeit zu zweit“ heißt es.
Martina und Rüdiger Spiegel haben Landwirtschaft studiert beziehungsweise eine hauswirtschaftliche Lehre gemacht. Bevor sie ihren Talhof 2014 pachteten, hatten sie ein Jahr lang Erfahrungen in einer Ziegenkäse-Käserei bei Freiburg gesammelt und zehn Jahre lang einen Hof am Bodensee gepachtet. Der Hof in Heidenheim gehört der „Interessengemeinschaft Talhof“ – eine gemeinnützige GmbH, bestehend aus Mitgliedern der Heidenheimer Familie Voith. Früher besaß die Firma Voith und mit ihr Firmengründer Hanns Voith den Hof. Er war stark inspiriert vom Wirken des umstrittenen Anthroposophen Rudolf Steiners und ließ den Talhof 1929 auf biodynamische Landwirtschaft umstellen.
Warum gibt es aber im Jahr 2022 auch sogenannte Ammen beim Mutter-Kind-Konzept? Rüdiger Spiegel: „Die Mutterkühe, die zum ersten Mal geboren haben, müssen noch ans Milchgeben gewöhnt werden. Wir melken sie deshalb erstmal ganz. Würden sie gleich stillen, würden sie in Zukunft weniger Milch produzieren.“ Also erklären er und seine Frau manche Kühe zu Ammen und lassen mehrere fremde Kälber an ihnen trinken.
Vermehrt geben heutzutage Landwirte ihren Kälbern auch Muttermilch in ihre Trinkeimer – statt Milchpulver. Die Erkenntnis setzt sich langsam durch, dass Muttermilch nicht nur für Menschen-Babies ein wahrer Fitness-Trunk ist. In ihr sind wichtige Stoffe zum Großwerden drin, etwa Eiweiß, Immunglobuline, Calcium und Mineralien.
Ertrag versus Tierwohl?
Früher haben Martina und Rüdiger Spiegel ihren Kälbern auch Muttermilch in Kübeln gegeben. Dann aber wollten sie ihnen nicht mehr vorschreiben, wie viel sie trinken dürfen. Kritiker sagen: Milchkühe sind Nutztiere, die Landwirte verdienen mit deren Milch ihren Lebensunterhalt. Sie ist zu kostbar, um die Kälber nach Lust und Laune trinken zu lassen. Sieht Martina Spiegel anders.
Seit sie und ihr Mann die mutterkuh- und ammengebundene Kälberaufzucht betreiben, seien die Kühe vitaler. „Kürzlich war der Tierarzt da und meinte: Gibt’s euch auch noch?!“ Unterm Strich könnten sie zwar fünf Prozent weniger Milch verkaufen beziehungsweise in ihrer hofeigenen Käserei weiterverarbeiten. Aber sie sparten viel Geld für Medikamente und Tierarztbesuche.
Freilich lassen solche Schilderungen außer Acht, dass die Situation auf dem Talhof, hinter dem als Träger eine gemeinnützige Gesellschaft steht, kaum mit dem Ertragsdruck vergleichbar ist, der auf vielen anderen Betrieben lastet. Wer als Demeter-Landwirt vom eigenen Hofverkauf und dem Zuspruch einer kaufkräftigen Bio-Klientel profitiert, hat manche Sorgen nicht, >>>>
Nach drei Monaten trinken die Kälber am Euter einer Amme mit und werden an Gras und Heu gewöhnt.