Oliver Hilmes Der Historiker schreibt über den Sommer 1945 und darüber, wie die Normalität zurückkehrte. Über Züge, die wieder fuhren, das erste Feinschmecker- restaurant, das noch in den Ruinen Berlins seine Türen öffnete, und einen weltberühmten Kuss auf der anderen Seite des Atlantiks.
Am 8. Mai vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Mit einer unvorstellbaren Zahl an Opfern: Mehr als 60 Millionen Menschen starben. „Etwa 3,5 Prozent der damaligen Weltbevölkerung“, betont Oliver Hilmes. Der Historiker recherchierte in zahlreichen Archiven für sein Buch „Ein Ende und ein Anfang“ über den Sommer 1945. Entstanden ist ein packender Stoff, der die Geschehnisse aus der Sicht prominenter und weniger bekannter Zeitgenossen erzählt.
Sie haben als Treffpunkt für unser Gespräch den Potsdamer Platz in Berlin ausgesucht. Hat das einen Grund?
Hier war das Zentrum der ehemaligen Reichshauptstadt. Zum Kriegsende am 8. Mai sah es desaströs aus, der Platz war zum großen Teil zerstört.
Auf Fotos sieht man im Sommer 1945 Berlin in Trümmern. Doch Sie schreiben, dass mehr als 70 Prozent der Häuser offiziell als bewohnbar galten. Passt das zusammen?
Die alliierten Bomber hatten sich an den großen Straßen orientiert. Dort war die Bebauung links und rechts auch zerstört. Aber kleinere Viertel blieben häufig erhalten. Das heißt, die Zerstörung der Stadt war in der Fläche nicht so katastrophal wie hier am Potsdamer Platz, wo sich um die Ecke in der Wilhelmstraße die Reichsministerien befanden. Auch Hitlers Reichskanzlei und der sogenannte Führerbunker waren nicht weit entfernt. Auf dem Gelände gibt es heute ein China-Restaurant, die „Peking Ente“.
Haben Sie sich beim Schreiben Ihres Buches über den Sommer 1945 häufiger gefragt: Wie mag das damals ausgesehen haben?
Das fragt man sich sowieso noch heute, wenn man durch die Innenstadt geht. Berlin ist eine Stadt voller Kriegswunden, gezeichnet von der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn man dagegen durch Paris läuft – eine Stadt, die weitgehend unversehrt vom Zweiten Weltkrieg geblieben ist – kann man erahnen, wie einheitlich und schön Berlin einmal gewesen sein muss.
Was hat Sie bei Ihren Recherchen für Ihr Buch über den Sommer 1945 überrascht?
Wie schnell damals der Alltag losging. Busse und U-Bahnen fuhren schon wenige Tage nach Kriegsende. Theater und Kinos öffneten wieder.
Was wurde in den Kinos gespielt?
Viele russische Filme, aber auch amerikanische. Teilweise Hollywoodfilme aus Goebbels’ Reichsfilmarchiv, die vorher nicht gezeigt werden durften.
Sogar die Berliner Philharmoniker traten schon im Sommer 1945 wieder auf.
Ja, dank Leo Borchard. Er war ein angesehener Dirigent und auch im Widerstand gewesen. Mit seiner Freundin, der Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, hatte er vielen Verfolgten des Naziregimes geholfen. Wenige Tage nach dem 8. Mai fuhr er mit seinem Fahrrad durch die Ruinenstadt, guckte, wer noch da ist von seinen Musikern und ob die noch ihre Instrumente hatten. Dann trommelte er sie zur ersten Probe zusammen.
Wie würden Sie die Gefühle der Deutschen 1945 beschreiben? Glaubten die überhaupt schon an einen Anfang?
Das kann man nicht generalisieren. Viele empfanden das Ende des Zweiten Weltkrieges als Niederlage, als totale Katastrophe. Ich zitiere auch aus Tagebüchern, wie zum Beispiel aus dem der Musikerin Annemarie von Duhn aus Potsdam. Sie und ihr Mann konnten sich überhaupt nicht vorstellen, dass aus diesem Land noch mal was werden würde. Andere aber krempelten die Ärmel hoch und legten los: Der Berliner Gastronom Heinz Zellermayer öffnete, als die Ruinen im Juli 1945 sprichwörtlich noch geraucht haben, ein Feinschmeckerrestaurant.
Woher bekam er die diversen Zutaten für das Essen?
Im Keller baute er Champignons an. Aber ganz viel lief über den Schwarzmarkt. Dort handelte er mit „Displaced Persons“ – das waren häufig ehemalige Insassen von Konzentrationslagern oder andere Verfolgte des NS-Regimes, die von den Alliierten höhere Nahrungsmittelrationen bekamen. Einige haben ihre Lebensmittel verkauft – und Zellermayer hat sie gekauft. So war er in der Lage, in seinem Restaurant Sachen anzubieten, die es im normalen Handel gar nicht gab.
Viele Menschen in Deutschland hungerten derweil. Wie kamen sie an Essen?
Es gab Essensmarken. Je nachdem, welche Arbeit man hatte, bekam man eine bestimmte Kalorienration zugeteilt. Die geringste wurde im Volksmund spöttisch als Friedhofskarte bezeichnet. Viele sind ins Umland gefahren und versuchten bei Bauern irgendwas zu bekommen. Außerdem gab es die Schwarzmärkte.
Was wurde dort getauscht oder verkauft?
Alles, was die Menschen noch hatten: Schmuck, Kleider, Stiefel, Möbel. Selbst mit Benzin wurde gehandelt. Eingekauft haben auch viele alliierte Soldaten. Die heimliche Währung waren Zigaretten der amerikanischen Marke Chesterfield. Es war ein buntes Treiben, doch völlig illegal. Vor dem Reichstagsgebäude gab es einen riesigen Schwarzmarkt. Aber auch viele kleinere Schwarzmärkte entstanden. Man kann sie mit heutigen Pop-up-Märkten vergleichen: Sie ploppten in kürzester Zeit auf und verschwanden auch ganz schnell wieder. Denn während die Polizei einen Schwarzmarkt räumte, wurde zwei oder drei Straßen weiter der nächste aufgemacht.
Wo haben Sie das alles recherchiert?
Im Bundesarchiv, im Berliner Landesarchiv, im Tagebucharchiv in Emmendingen, aber auch in amerikanischen Archiven. Das ist mir immer wichtig, weil ich ja von Hause aus Historiker bin. Alles soll quellenfundiert sein. Auch so banale Dinge wie Speisekarten. Wie zum Beispiel die von dem Restaurant „Romanoff’s“ in Los Angeles.
Warum war das „Romanoff’s“, weit weg von Deutschland, für Sie wichtig?
Das war in den 40er-Jahren ein Schickimicki-Restaurant. Der Eigentümer Prinz Michael Dimitri Alexandrowitsch Obolensky-Romanoff behauptete, ein Neffe des Zaren Nikolaus II. zu sein. Für mich war das Restaurant interessant, weil dort viele deutschsprachige Emigranten wie Thomas Mann und Alma Mahler-Werfel verkehrten. Los Angeles war eine Emigrationshochburg. Und ich wollte eben auch eine ganz andere Sicht auf diesen Sommer 1945 werfen, nämlich die aus der Perspektive deutschsprachiger Exilanten.
Während Thomas Mann Deutschland nach der Machtergreifung verlassen hatte, sind andere Schriftsteller wie Walter von Molo geblieben. Einige von ihnen rechtfertigten das mit dem Begriff der „Inneren Emigration“. War das plausibel?
Innere Emigration ist eine Formulierung, die beschreiben sollte, dass man als Künstler im nationalsozialistischen Deutschland leben konnte, ohne Schuld auf sich zu laden. Man blieb im Land, aber hielt sich vom Regime fern. Viele Vertreter der „Inneren Emigration“ glaubten wirklich, dass sie so frei von Schuld bleiben konnten. Thomas Mann lehnte diese Idee komplett ab. Er sagte, dass jeder, der geblieben ist, Schuld auf sich geladen habe. Alle Bücher, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland erschienen sind, seien wertlos. Das waren komplett konträre Ansätze, und deshalb hat Thomas Mann auch eine Einladung von Walter von Molo nach Deutschland empört abgelehnt. Er sagte, dass er nicht in ein Land zurückkommen könne, das ihn rausgeschmissen habe.
Thomas Mann war 1938 emigriert. Aber seine Kinder Klaus und Erika waren schon im Sommer 1945 wieder in Deutschland. Wie gelang ihnen das?
1945 war das Reisen nach Deutschland nur Militärangehörigen vorbehalten. Klaus Mann ist als GI nach Deutschland gereist, nicht als Privatperson. Er und seine Schwester arbeiteten als Sonderkorrespondenten für amerikanische Zeitschriften.
Und jetzt zum vielleicht berühmteste Foto des Friedens. Es gelang Alfred Eisenstaedt. Der Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie war 1935 in die USA emigriert und arbeitete dort als Fotoreporter. Am 15. August 1945, kurz nachdem der japanische Kaiser die Kapitulation Japans bekannt gegeben hatte, feierten Menschen in den Straßen von New York. Eisenstaedt drückte auf den Auslöser seiner Kamera, als er einen Matrosen sah, der eine Frau küsste ...
... wie immer bei großen Fotos ist es ein klassischer Schnappschuss. Auf dem Times Square und der Fifth Avenue war eine große Party. Eisenstaedt beobachtete den Matrosen, der jede Frau, die ihm entgegenkam, einfach küsste. Heute würde man das als übergriffig, fast schon als Missbrauch bezeichnen. Das berühmte Foto entstand, als der Matrose eine junge Frau halb über seinen Arm legte und küsste. Später hat man ihn und die Frau identifizieren können. Sie war Krankenschwester und fand es gar nicht lustig, von einem fremden Mann geküsst zu werden. Der Matrose sagte, er habe sich dabei nicht viel gedacht. Er war einfach glücklich, und aus seiner exaltierten Laune heraus, hat er sie eben geküsst.
Harry Truman wurde nach dem Tod von Franklin Roosevelt US-Präsident. Der 8. Mai war sein 61. Geburtstag. Welchen Einfluss hatte er auf das Nachkriegsgeschehen?
Einen ganz erheblichen. Truman war ein Realpolitiker, der schnell in sein Amt hineingewachsen ist. Mit dem britischen Premier Winston Churchill und dem sowjetischen Machthaber Josef Stalin hat er sich bei der Potsdamer Konferenz um eine neue Weltordnung bemüht. Sein Vorgänger Roosevelt war noch überzeugt gewesen, dass er die Sowjetunion einbinden könnte. Truman dagegen wurde in Potsdam klar, dass den Sowjets nicht zu trauen war.
Welchen Nachhall hat der Sommer 1945 für uns heute?
Präsident Harry Truman richtete nach der Potsdamer Konferenz die amerikanische Außenpolitik neu aus und entwickelte die sogenannte Truman-Doktrin. Sie beinhaltet, dass jedes Volk das Recht habe, seine eigene Daseinsform zu bestimmen. Er versprach den freien Völkern, die in die Hände Moskau zu fallen drohten, militärischen Beistand von den USA. Also: Wer um Hilfe bittet, dem helfen wir.
Das klingt angesichts der Situation in Europa sehr aktuell.
Ja, denn wir wissen im Moment nicht, inwieweit sich US-Präsident Donald Trump von Trumans Doktrin entfernt – ob er mit seiner Außenpolitik wieder in die 1820er-Jahre zur sogenannten Monroe-Doktrin zurückkehren will. Die besagt, dass sich Amerika aus den europäischen Angelegenheiten heraushalten solle. Wie es bei Trump heute heißt: America first. Doch wer schützt dann Europa? Mit dem Blick auf 1945 ist das eine spannende Frage.