„Fliegt!“

Das Nationalballett des Kosovo ist mehr als nur ein Hort der Künste – es steht symbolisch für die Hoffnungen und die nationale Identität des jungen Landes. Eine Aufführung der „Carmina Burana“ zeigt das Engagement der Tänzer im Angesicht einer fragilen gesellschaftlichen Lage.

Die stampfende Pauke treibt den Chor an. „Schicksal, ungeschlacht und eitel“, schallt es aus über einhundert Kehlen. Auf der Bühne schreiten die Tänzer aufeinander zu. Die Streicher und Hörner steigern das Tempo der Musik. Der mächtige Chor klingt verzweifelter: „Rad, du rollendes! Schlimm dein Wesen!“ Es sind die intensivsten Momente im Lied zu Ehren der Schicksalsgöttin Fortuna. Das Finale der Aufführung.

Die Mitglieder des Balletts bilden nun einen Pulk, einige Männer beugen sich nach vorn, ihre Rücken bilden eine Rampe. Darauf strebt eine Tänzerin nach oben, Leonora Rexhepi. Gehalten von zwei Männern schwebt sie scheinbar empor, bis sie auf den Schultern eines Tänzers zum Stehen kommt. Die Arme reckt Rexhepi zur Decke der Konzerthalle, ihr Blick scheint etwas zu sehen. Das Orchester ist bei einem letzten langen, kraftvollen Ton angekommen.

Unzählige Male haben die Künstler diese Szene geprobt. Der Choreograph im Zuschauerraum flüstert: „Du hast dem Schicksal getrotzt und bist auferstanden.“ Dann bricht die Musik abrupt ab. Im Publikum brandet Jubel auf.

So endet die Premiere der „Carmina Burana“ im Kosovo. Es ist die größte Aufführung klassischer Musik in der noch jungen Geschichte des Landes. 400 Künstler stehen auf und vor der Bühne. „Frieden und Harmonie triumphieren“, verkünden am Tag darauf die nationalen Medien.

„Carmina Burana“ im Kosovo ist mehr als ein Konzerterlebnis. Die Tänzer des Nationalballetts ließen sich in den Tagen vor der Premiere begleiten. Sie sprachen oft über Verantwortung und Stärke. Viele Mitglieder des Ensembles gehören einer Generation an, die als Kinder Krieg erlebt haben oder mit ihren Eltern davor geflüchtet sind. Nun sind sie zurück – und tanzen um Anerkennung. Dieser Abend voller Kunst ist in unsicheren Zeiten ein Symbol für ein selbstbewusstes, eigenständiges Kosovo. Ein Statement mit Geigen und Ballettschuhen.

Noch vier Tage bis zur Premiere

„Mama mia, ragazzi!“ Toni Candeloro schaut fassungslos auf seine Tänzer. „Was ist denn passiert? Habt ihr alles vergessen?“ Einer wagt eine Antwort: „Ich glaube, einige wissen nicht, auf welchen Takt der Sprung kommt.“ Candeloro schüttelt den Kopf: „Es ist eine Schande, das zu sagen. Wo seid ihr denn alle im vergangenen Monat gewesen?“ Auf diese Frage folgt nur Schweigen. Dann sagt Candeloro: „Also noch einmal auf Position. Und Musik ab.“

Eigens für die Aufführung der „Carmina Burana“ hat das Nationalballett Kosovo einen Choreographen aus dem Ausland engagiert: Toni Candeloro. In den 1980ern und 1990ern tanzte der Italiener auf den Bühnen der Welt: Verona, Rio de Janeiro, Moskau. Heute arbeitet er hauptsächlich als Choreograph. In den Kosovo, sagt er selbst, habe er sich bei einem Engagement vor wenigen Jahren verliebt. „Diese Leute haben die Kunst im Blut.“

Dreieinhalb Monate bekam Candeloro Zeit, um mit der Truppe ein einstündiges Programm auf die Beine zu stellen. Toni Candeloro hat den aufrechten Gang eines Athleten und die wirren Locken eines Künstlers. Er kann streng sein, auch wenn bei allen schon die Nerven blank liegen. Aber fast immer ruft dann ein Tänzer: „Toni, wir lieben dich!“ Und dann lächelt Candeloro breit und schickt ein paar Luftküsse in die Runde.

Sein nomadisches Künstlerleben hat den Choreographen in ein Land geführt, das eine bewegte jüngere Geschichte hinter sich hat. Zunächst herrschte Ende der 1990er Jahre Krieg, dann erklärte sich der Kosovo im Februar 2008 für unabhängig. Zwar haben weltweit inzwischen 117 Staaten den Kosovo anerkannt, der Konflikt mit dem Nachbarn Serbien schwelt allerdings weiter. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen und Schusswechseln an der Grenze. Schon länger warnen Experten vor einer erneuten Eskalation auf dem Balkan.

Ein Nationalballett in so einem Staat ist nicht mit Ensembles aus anderen europäischen Ländern zu vergleichen. Die Probleme des Kosovo sind auch die Probleme der Tänzer: zu wenig Geld, alles ist etwas zu klein, zu viel ist improvisiert. Die 26 Mitglieder des Nationalballetts verdienen 500 bis 850 Euro im Monat, abhängig von ihrem Rang in der Truppe. Die meisten verdienen sich etwas dazu, indem sie Kinder und Jugendliche im Ballett unterrichten. Sie haben keine eigene Bühne, geschweige denn einen eigenen Probenraum. Das Nationaltheater in der Hauptstadt Pristina wird seit Mitte 2022 renoviert, doch niemand weiß, ob und wann das Haus wieder eröffnen wird. Also übt das Ballett in den Räumen der Volkstanzgruppe Shota. Die Folkloretruppe ist vormittags dran, die Balletttänzer am Nachmittag.

In diesem schmucklosen Raum mit schwarzen langen Vorhängen probt die Gruppe auch an diesem Tag. Schweres Atmen ist zu hören, dazwischen die Rufe von Toni Candeloro: „Fliegt!“ „Langsam jetzt!“ „Nicht so viele Manierismen, sei du selbst!“ Am Ende der Probe versammeln sich die Tänzer um den Choreographen. Bei allen fließt der Schweiß, auch bei Candeloro. Er redet beschwörend auf die Männer und Frauen ein: „Das hier ist kein Hobby, das ist Profession. Wir brauchen Qualität.“ Er wiederholt das letzte Wort noch einige Male. Auch Candeloro weiß, dass dieses Nationalballett eine besondere Aufgabe hat: Es soll Vergewisserung sein. Wenn das Ballett glänzt, dann glänzt auch der Staat Kosovo.

Noch drei Tage bis zur Premiere

Sead Vuniqi wohnte in Düsseldorf und verehrte Michael Jackson. Der Junge, der mit seinen Eltern vor dem Krieg auf dem Balkan in das Rheinland geflüchtet war, tanzte vor dem Spiegel wie der Popstar. Er war auch gut in Mathematik und spielte Fußball. Die Eltern hofften, dass ein Architekt aus ihm werden würde.

Als die Familie in den Kosovo zurückkehrte, war Sead Vuniqi zehn Jahre alt. Er meldete sich in der Musikschule von Pristina an, allerdings waren alle Kurse schon voll, bis auf einen. Der Leiter der Musikschule sagte ihm, es gebe nur einen Weg, an die Schule zu kommen: Ballett. Und als er sah, dass dieser junge Bewerber sein Bein bis neben den Kopf heben konnte, sagte er ihm, er müsse mit Fußball aufhören. So begann Sead Vuniqis Ballett-Karriere.

Wenn es heute im Nationalballett einen Meistertänzer gibt, dann ist das Vuniqi. Er erzählt selbst, bei der letzten Aufführung des Nussknackers habe ihn der Choreograph für mehrere Soli besetzt. Niemand außer ihm sei in der Lage gewesen, die anspruchsvollen Passagen zu tanzen. Sead Vuniqi entwickelt eigene Stücke. Er ist nun 35 Jahre alt, und manchmal scheint es so, als sei das Nationalballett des Kosovo für ihn zu klein geworden. Aber auch er nickt ernst und zurückhaltend, wenn Toni Candeloro spricht. Eine Stunde haben die Tänzer an diesem Nachmittag an der Szene für „O Fortuna“ geprobt, Auftakt und Ende des Stückes, wenn sie alle gemeinsam Leonora Rexhepi gen Himmel heben.

„Stellt euch vor, es ist der Kosovo“, sagt Candeloro zu den Männern und Frauen, „auferstanden aus den Trümmern, strahlend und trotz des Krieges immer noch da.“ Als Sead Vuniqi sich wenig später schwer atmend am Rand der Bühne abstützt, sagt er: „Ich habe oft gehört, was die erste Generation des Balletts für Opfer gebracht hat. Ich möchte ihnen und meinem Land etwas zurückgeben.“

So wie das ganze Land ist auch das Ballett wieder auferstanden. Das erste Ballett des Kosovo wurde 1972 gegründet, mitten hinein in ein Jugoslawien, das eigentlich keine Nationen kennen wollte. Als die Konflikte im Vielvölkerstaat zunahmen, musste auch das Kosovo Ballett aufgeben, das war 1991. Zehn Jahre herrschten dann Krieg und Tristesse, niemand dachte an Ballett. >>>>

>>>> Es waren einige Tänzer der ersten Generation, die 2001 den Neuanfang wagten, sich selbst wieder auf die Bühne stellten und in Pristina Ballettkurse anboten. Die ersten Absolventen dieser Kurse tragen das Ballett bis heute.

Sinan Katajzi, einst einer der besten Tänzer, führt jetzt das Ballett als Direktor. Sead Vuniqi hatte als Kind seinen ersten Auftritt vor dem Monument „Newborn“ in Pristina, Symbol der Auferstehung. Es waren nur fünf Minuten. „Seitdem brennt das Feuer in mir.“ Vuniqis Frau Vlora hat einen Bruder im Krieg verloren. Sie führt eine der erfolgreichsten Ballettschulen des Kosovo. Behie Murtezi hat neben ihrer Karriere im Ballett drei Jungen geboren. In „Carmina Burana“ tanzt sie sehr athletisch.

All diese Männer und Frauen sind nicht mehr jung, aber sie denken nicht ans Aufhören. Sie glauben daran, dass dieses Ballett existieren muss, weil der Kosovo existiert.

Toni Candeloro übt zum Ende der Probe an diesem Tag, wie die Tänzer den Applaus entgegennehmen. Er möchte nichts dem Zufall überlassen: Vortreten, Verbeugen, Zurücktreten – Professionalität, bis der letzte Vorhang fällt. „Fuchtelt nicht mit den Armen rum“, ruft Candeloro. „Das ist Provinz, ihr aber seid elegant, internationale Klasse.“

Nach der Probe rollen die Tänzer selbst den Tanzboden zusammen. Der wird zu einem Veranstaltungszentrum etwas außerhalb von Pristina gebracht, der AMC-Hall. Das Nationalballett hat nur diesen einen Tanzboden. Candeloro mag von Klasse sprechen. Deutlich wird aber der Mangel.

Noch zwei Tage bis zur Premiere

Pristina ist im Sommer eine ruhelose Stadt. Bis in die Nacht hinein spazieren Familien, Freunde und Paare über die Boulevards im Zentrum. Gruppen sitzen unter Maulbeerbäumen, Kinder spielen Fußball und Fangen. Die Hauptstadt ist ein wilder Mix aus brutaler sozialistischer Architektur, Kriegsruinen und neuen glänzenden Fassaden. So unentschlossen wie das ganze Land.

Im zentralen Kongress-Zentrum startet an diesem Tag die Konferenz „Smart City“, es geht um KI-gesteuerte Ampeln und die Zukunft. Zur Eröffnung der Konferenz tanzt Sead Vuniqi mit ein paar Männern und Frauen des Nationalballetts einen Ausschnitt aus dem Stück „Deadline“. Während des Auftritts gucken einige Zuschauer in den vorderen Reihen auf ihre Telefone, der abschließende Applaus geht im Konferenztrubel fast unter. Vuniqi ist trotzdem glücklich: „Es war fantastisch, eine gute Energie“, sagt er. Es scheint, dass Vuniqi nur den Tanz braucht, um glücklich zu sein.

Die AMC-Hall liegt vor Pristina, ein Klotz mitten in einem staubtrockenen, gleißend hellen Feld. Es ist kein guter Aufführungsort für eine Gruppe, die gesehen werden möchte. Zu weit im Abseits, zu schmucklos. Die Pauke des Orchesters steht schon da, über der Bühne schrauben Arbeiter die Scheinwerfer fest. Der Tanzboden liegt an Ort und Stelle. Als die Tänzer am Nachmittag die Halle betreten, ziehen einige die Augenbrauen hoch. „Ach du meine Güte“. Dann schnappen sie sich zwei Eimer und einen Wischmop, um den Tanzboden zu säubern – Staub und Baureste überall.

Die Mitglieder von Chor und Orchester treffen ein. Das Orchester wird vom japanischen Dirigenten Toshio Yanagisawa geleitet. Der Chor hat für die Solopartien den italienischen Tenor Federico Buttazzo sowie den bulgarischen Bariton Ivo Yordanov engagiert.

Und am Morgen ist auch endlich Antonella Albano in Pristina eingetroffen, Primaballerina am Teatro alla Scala in Mailand. Noch hat sie niemand gesehen, aber die Tänzer erzählen sich, Toni Candeloro habe mit ihr getanzt, als er schon mittelalt war und sie noch sehr jung.

Diese Gäste sind hoch willkommen. Es sind die größten Namen, die sie für diese Aufführung finden konnten. Große Namen sind gut. Sie verleihen der Aufführung Größe und Bedeutung. Und damit auch dem Land.

In den Abendnachrichten geht es mal wieder um den Konflikt mit Serbien. Kosovos Premierminister Albin Kurti ruft die internationalen Verbündeten dazu auf, Druck auf Serbien auszuüben. Immer wieder versuche Serbien die Republik Kosovo von innen zu destabilisieren. Nichts ist sicher im Kosovo. „Es gibt in diesem Land einfach zu viele Einschränkungen“, sagt der Tänzer Sead Vuniqi. „Licht, Ton, Bühnenbild – ständig fehlen die Ressourcen. So kann man keine Kunst machen.“ Die Aufführung der „Carmina Burana“ ist Teil einer Festwoche. Gefeiert werden die Unabhängigkeit und die Verfassung des Kosovo. In knapp 48 Stunden sollen in den ersten Reihen vor der Bühne Staatsgäste sitzen.

Noch ein Tag bis zur Premiere

Bis halb drei in der Nacht hat Toni Candeloro in der AMC-Hall an der Beleuchtung gearbeitet. Wann soll welcher Scheinwerfer wohin scheinen? Jetzt steht er lächelnd mit sechs Tänzern in der italienischen Botschaft in Pristina, früher Vormittag, alle in Ausgehkleidung.

Auf dem Empfang gibt es Häppchen und Prosecco. Candeloro tänzelt von Stehtisch zu Stehtisch. Sead Vuniqi murmelt: „Ich kann solche Veranstaltungen nicht leiden. Wenn hier wenigstens Leute wären, mit denen ich über Karriere und neue Jobs sprechen könnte.“ Ein anderer Tänzer legt ihm die Hand auf die Schulter: „Das gehört zu unserem Job. Wir können nicht immer nur tanzen.“

Die Tänzerin und dreifache Mutter Behie Murtezi ist auffallend wortkarg. Bald wird klar, was ihr die Laune verdorben hat. Auf dem Weg von der Botschaft zum Probenraum redet Murtezi auf den Choreographen Candeloro ein. Am Morgen sind Ankündigungen für „Carmina Burana“ in den sozialen Medien erschienen. Solo-Sänger, der Dirigent und zwei Tänzer sind mit Porträts abgebildet. Aber nicht Behie Murtezi. Sie tanzt in dem Stück zwei Soli. „Ich war vergangene Woche beim Arzt, er hat mich sieben Tage krankgeschrieben. Ich bin trotzdem jeden Tag zur Arbeit gekommen. Jetzt frage ich mich: wofür?“ Murtezi ist gekränkt.

Dieses Ballett soll zwar das Land repräsentieren, aber es ist wie der Staat ein fragiles Gebilde. Manchmal genügt es nicht, Teil von etwas Großem zu sein. Jeder einzelne möchte gesehen werden.

Als Candeloro einmal länger über das Ensemble spricht, sagt er: „Ich weiß, ich verlange zu viel von ihnen.“ In den Tagen vor der Aufführung probt er nur noch selten an der Technik, öfter redet er von der Kunst. Was das Nationalballett nicht an Raffinesse hat, soll es mit Ausdruck wettmachen. Er sagt zu den Tänzern: „Es geht nicht darum, etwas zu tun, sondern etwas zu sein.“ Es klingt dann so, als wolle er diesen Rat dem ganzen Land mit auf den holprigen Weg geben. Zu Behie Murtezie sagt er: „Ich kümmere mich. Du sollst nicht vergessen werden.“

An diesem Abend findet die Generalprobe statt. Chor, Ballett und Orchester proben gemeinsam. Im Zuschauerraum befestigen Bauarbeiter die letzten Bänke. Etwas entfernt sitzt Toni Candeloro, vielmehr: er versucht, sitzen zu bleiben. Aber immer wieder springt er auf, ruft in sein Mikrofon: „Linie! Linie!“ Doch so sehr er auch brüllt: Die Tänzer bewegen sich nur selten synchron.

Nach der Probe – Chor und Orchester sind längst verschwunden – lässt Candeloro eine Stelle so oft wiederholen, bis zwei Tänzerinnen mit den Köpfen zusammenstoßen. Candeloro: „Ich sage etwas, und ihr macht etwas anderes.“ Plötzlich wird die Verantwortung spürbar. Jemand sagt, er habe gehört, Ministerpräsident Albin Kurti komme zur Premiere. Sead Vuniqis Frau, Vlora Prizreni, sagt: „Ich habe ein schlechtes Bauchgefühl.“ Behie Murtezie schaut auf ihr Handy. Die Posts mit den Einzelporträts sind aus den sozialen Medien verschwunden.

Die Premiere

Dieser Freitag beginnt um 6.30 Uhr. Sead Vuniqi und Vlora Prizreni, ihre Töchter Alena und Anaja frühstücken gemeinsam. Prizrenis Mutter sitzt mit am Tisch. Sie hilft, wenn die Tage voll sind. Es gibt starken Kaffee für die Erwachsenen, Cornflakes für die Kinder, Obst für alle.

Das Ehepaar ist sehr unterschiedlich: die ruhige, strukturierte Vlora, der quirlige, vor Energie überschäumende Sead. „Er tanzt sehr schnell“, sagt sie über ihn. So sind auch seine Choreographien. Sie hingegen denkt sich für ihre Tanzschüler nachdenkliche Stücke zum Thema Obdachlosigkeit aus. Die Biographien der beiden hat der Krieg geprägt. Vlora Prizreni wuchs in Sarajevo auf, ihre Mutter wollte in der Stadt sein, in der ihr Sohn, Prizrenis Bruder, starb. Sead Vuniqis Familie zog nach Düsseldorf. Die beiden trafen sich im Ballett. Sie war 16 und verliebte sich sofort in den Mann, der die schnellsten Pirouetten drehte.

An diesem Morgen der Premiere reden die beiden über das Tanzen auf der Bühne, den Moment, wenn der Vorhang endlich fällt. Vlora Vuniqi sagt: „Es ist das besondere Gefühl, wenn aus dem Chaos des Lebens plötzlich Ruhe wird.“ Sead Vuniqi sagt: „Jedes Land braucht Kunst. Sie ist Inspiration und Schönheit.“

Dann muss plötzlich alles schnell gehen. Der Schulbus wartet vor der Tür, die Töchter winken, steigen ein. Die Großmutter räumt die Kaffeetassen weg. Die Eltern stehen noch einen Moment am Fenster. Ihre Töchter lernen auch Ballett, die Eltern wünschen sich, dass auch sie eines Tages für ihr Land tanzen.

Die Stunden vor der Premiere gleichen einem Schwungrad, das langsam losdreht, dann aber stetig schneller wird. Am frühen Nachmittag trudeln die Tänzer in der AMC-Hall ein. Wie jeden Tag absolvieren sie ihre Übungen an den Ballettstangen. Ein offensichtlich müder Toni Candeloro ruft „Plié, Plié, Plié!“

In einer der langen Wartepausen sagt eine Tänzerin: „Das Geld für die Kultur wird völlig falsch eingesetzt.“ „Carmina Burana“ wird an zwei aufeinanderfolgenden Tagen aufgeführt. Eingeladen sind vor allem Staatsbedienstete. Und alle Mitwirkenden durften Freikarten an ihre Familien geben. Im freien Verkauf gab es für die beiden Vorstellungen kaum Tickets. Die Tänzerin: „Wenn man sich diese Produktion sparen würde, könnte man viel schneller ein neues Theater bauen.“ Nur der ständige Zwang zur Selbstvergewisserung lässt so etwas nicht zu.

Auf der Bühne werden nun letzte Fragen geklärt. Immer wieder tritt ein Tänzer zu Toni Candeloro. Sead Vuniqi möchte wissen, ob er bei seinem Solo den Boden mit der Handfläche oder dem Handrücken berührt. Behie Murtezi fragt, wie tief sie sich in einer Szene hinunterbeugen soll. Hundert Mal geübt, aber nun steht alles in Frage.

In der kleinen Garderobe geht es drunter und drüber. Es gibt einen Spiegel und zwei Stühle. Flaschenweise sprühen sich die Tänzer Spray auf die Haare, zwei Frauen schminken jeden Einzelnen. Die italienische Primaballerina Antonella Albano näht an ihren Ballettschuhen. Eine Stunde vor Beginn der Vorstellung betritt Toni Candeloro die Garderobe. Er umarmt eine Tänzerin, schminkt einen Tänzer, strahlt, wirft Küsse in die Luft.

Eine halbe Stunde bevor der Vorhang aufgeht, schicken die Tänzer letzte Nachrichten von ihren Handys, posten Selfies. „Gleich geht es los!“ „Ich freu mich auf euch.“ Sead Vuniqi hält eine Packung Cracker in der Hand. „Jetzt hab` ich Stress. Ich muss etwas essen.“ Behie Murtezi flüstert: „Fast vier Monate hatten wir Terror wegen dieser Show. Jetzt sind wir bald frei.“ Sie werfen kontrollierende Blicke in den Spiegel, ziehen den Lippenstift nach. Sead Vuniqi späht durch den Vorhang in den Zuschauerraum. Zum ersten Mal ganz still und unbeweglich. Der Premierminister ist nicht da.

Sie umarmen sich, wünschen sich Erfolg. Biegen ihre Füße. Dehnen den Rücken. Nehmen Aufstellung an der Treppe zur Bühne. Die Pauke schlägt. Dann der Chor: „O Fortuna!“ Ein paar Schritte noch. Toni Candeloro hat gesagt: „Seid nur ihr selbst.“ Das sind sie jetzt. Und der Kosovo schaut zu.

Der Beitrag wurde finanziell durch den Medienfonds „real21 – die Welt verstehen“ unterstützt.

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