Volle Säle, heiße Debatten, ungebändigte Stimmen

Festival Die Donaueschinger Musiktage feiern 75 Jahre Zusammenarbeit mit dem SWR. Das Motto: „Voices Unbound“.

Fünf Mundharmonikas tönten da unter freiem Himmel am Lammtor, bei allerschönster Herbstsonne. Meditative Harmonien schwebten durch die Luft, kombiniert mit glitzernden, elektronisch generierten, handyruf-ähnlichen Tongirlanden. Klar schwang auch mit, dass das Fernwehinstrument, schwäbisch „Goschahobel“ genannt, vom nahen Trossingen aus in alle Welt exportiert wird. Hier bei den Donaueschinger Musiktagen wirkte das Gespielte, Tristan Perichs „Reflections of a Bright Object“ für Mundharmonikas und 18-Kanal-1-Bit-Elektronik, wie eine Traumsequenz leiser, feiner, atmender Klänge.

Zu schön für Neue Musik? Am Abend zuvor ging es völlig anders zur Sache. Da agierte Mariam Rezaei an den Turntables, auch open-air, aber bei verschärften Kältegraden nachts im Schlosspark. Unter dem Titel „Scholar’s Record“ kreierte die britisch-iranische Künstlerin im fliegenden Wechsel auf vier Plattentellern einen wilden Remix aus Klangschnipseln des Rundfunk-Archivs. Mit Scratching, Beatjuggling und derlei Tricks entstand eine furiose Collage aus meist jazzigen Fragmenten.

Denn nebenbei gab es ein Jubiläum zu feiern: 75 Jahre SWR bei den Donaueschinger Musiktagen. 1950 stieg der damalige Südwestfunk (SWF) beim Festival ein. Bei einem Festakt wurde das SWR-Engagement für die Musiktage ausgiebig gerühmt, als „wunderbare Partnerschaft“, als „Allianz ästhetischer Ermöglichung“ gar. Gut, dass die Laudatorin Eleonore Büning auch an Krisen erinnerte, als der Sender in den 1990ern das Festival „halbieren“ wollte – was massive Proteste verhinderten.

Appell, die Stimme zu erheben

Musiktagechefin Lydia Rilling, deren Vertrag auf unbefristet verlängert wurde, setzte diesmal als Motto „Voices Unbound“. In Zeiten, da die Freiheit der Kultur weltweit bedroht ist, bekommt dies auch eine politische Dimension – als Appell, die Stimme zu erheben. In Félix Blumes Klanginstallation „Ao Pé Do Ouvido (Am Ohr)“ etwa kommen 50 Menschen der Millionenstadt São Paulo zu Wort: mit ihren Migrationsgeschichten, mit ihren Träumen von einem besseren Leben.

Als dann François-Xavier Roth, Chef des SWR Symphonieorchesters, beim Eröffnungskonzert ans Pult trat, gab es kurze, aber vernehmbare Proteste, bezogen auf die MeToo-Vorwürfe gegen ihn. „Machtstrukturen im Musikbetrieb“, so hieß auch eine Podiumsdebatte beim Festival.

Und die Musik? Oft an der Grenze zur Stille. Mark Andres Studie „Im Entfalten“ etwa beginnt mit einem superleisen Fingertremolo auf dem Donnerblech. Turgut Erçevit erforscht in „There recedes a silence“ nicht reale, historische Räume, und „Miro“ von Imsu Choi gibt sich als Suche in einem Labyrinth zu erkennen. Philippe Leroux beschäftigt sich in der turbulenten Studie „Paris, Banlieue“ mit den Vororten der Stadt. Kleiner Gag: Am Ende zeigen die Orchestermitglieder rundum – in alle möglichen Himmelsrichtungen.

Neue Konzertformen erprobte Hanna Eimermanns „Aura“. In ihrer „Klangumarmung“ erlebte das Publikum, elliptisch umgeben von Musik, eine Surroundchoreographie aus Licht, Sound und Bewegung. Stimmen aus dem postsowjetischen Raum kamen am Sonntag früh zu Wort. „Garmonbozia“ des Exilrussen Alexander Khubeev etwa spielt auf David Lynchs „Twin Peaks“ an. Das Klangforum Wien unter Vimbayi Kaziboni inszenierte hier ein wahnwitziges Inferno, einen Alptraum aus Schmerz und Bedrohung: ein Tosen, Toben, Grollen, Heulen, Donnern und Stampfen, höchst beklemmend. Die Ukrainerin Anna Korsun setzte in „Vivrisses“, benannt nach den Tasthaaren von Tieren, auch die Stimmen der Musizierenden ein – auf der Suche nach einer empfindsamen Harmonie.

Alles bierernst? Nein, Koka Nikoladze, Wahlnorweger aus Georgien, bot in seinem Beitrag eine Art Trickfilm-Soundtrack. Die japanische Google-Übersetzung wiederholt da unbeirrt freundlich die mehrfach eingetippte Zahl 7 („nana“), und das Ensemble reagiert darauf mit Noiseblöcken, aus denen sich eine lärmende, hupende Tanzmusik entwickelt – samt finalem Pistolenschuss.

Das Konzept geht auf

Das große Abschlusskonzert? Durchwachsen. Laure M. Hiendl zitiert in „The deepest continuity“ wenige Takte aus Ralph Vaughan Williams‘ 7. Sinfonie. Diese Sequenz erklingt hier gefühlte 1000 Mal, nur leicht verändert. Ein grausamer Dauerloop, quälende 25 Minuten lang. Mirela Ivičević dagegen entwirft in „Red Thread Mermaid“ ein nostalgisches Mosaik aus Pop-Splittern Ex-Jugoslawiens, die vom SWR Orchester unter Elena Schwarz auch als Bekenntnis zur Multiethnizität gelesen wurde –mit filmmusikalischem Wumms.

Kurzum, Lydia Rillings Konzept, das Festival zu öffnen, geht auf. Die Neue Musik, x-mal totgesagt: In Donaueschingen lebt sie und bleibt – ungebändigt.

Wenn die Bilder babbeln

Museum Ritter „Einfach machen!“ ist eine Hommage für Walter Giers, einen Pionier der elektronischen Kunst.

Waldenbuch. Für den Niederländer Johann Huizinga wäre Walter Giers (1937-2016) sicher der Prototyp, die Idealfigur für seinen „Homo ludens“ gewesen, ein mit einem ungewöhnlichen Spieltrieb ausgestattetes menschliches Wesen also, das es fertigbrachte, kulturelle Höhenflüge zu organisieren. Dabei förderte der aus dem nordpfälzischen Mannweiler stammende Walter Giers seine kreativen Kräfte erst so richtig zu Tage, als er Anfang der sechziger Jahre nach Schwäbisch Gmünd in den Ostalbkreis hinüberwechselte, wo er bis zu seinem Tod vor allem für Aufsehen in der Kunstszene sorgte.

Und die jetzt im Museum Ritter in Waldenbuch eröffnete Giers-Hommage mit dem die Experimentierlust befördernden Titel „Einfach machen!“ zeigt, dass dieser multibegabte geniale Tüftler Giers mit seinen aus interaktiv angelegten und oft mit Glühlampen, Neonröhren, Drähten, Lautsprechern, Speicherchips, Transistoren, Kondensatoren oder Transformatoren bestückten Bildobjekten auch international soviel Resonanz generierte, dass er heute uneingeschränkt zu den großen Pionieren der elektronischen Kunst gezählt wird. Kein Wunder, dass sich das renommierte Medienzentrum ZKM in Karlsruhe bereiterklärt hat, seinen opulenten Nachlass in Obhut zu nehmen.

Auch das Publikum muss Giers’ Bildobjekte lieben, denn wo kann man sonst schon erleben, dass Bilder schon im Vorbeigehen oder im sanften Drüberstreichen plötzlich zu leuchten, zu flackern, zu babbeln und zu sprechen anfangen oder sogar Musik machen und ganze Tonleitern und Tonkaskaden runterspielen? Eine schöne Ergänzung zu dieser Werkschau von Walter Giers ist im Entreé des Museums eine Parade von Glanzstücken der Kinetik und Lichtkunst aus der Sammlung von Marli Hoppe-Ritter. Zu erwähnen ist hier besonders Maurizio Nannuccis wandfüllendes Leuchtobjekt „LOVE“ von 2013, Hans Kotters „Tunnel View“ von 2011 und Heinz Macks „Silber-Mond-Rotor“ von 1971.

Info „Walter Giers. Einfach machen!“ und Lichtkunst aus der Sammlung Marli Hoppe-Ritter bis 19. April im Museum Ritter in Waldenbuch, Öffnungszeiten Di-So 11-18 Uhr; museum-ritter.de

Schubladeninteressiertenihn nicht

US-Künstler Er überwand Gattungs- und Stilgrenzen wie kaum ein anderer. Jetzt wäre Robert Rauschenberg 100 Jahre alt geworden.

Frankfurt a. M. „Ich kann mir so manchen Luxus leisten, aber den der Langeweile nicht“, sagte Robert Rauschenberg (1925-2008) einmal. Unermüdlich experimentierte und suchte er, probierte Dinge aus. Der US-Künstler mit deutschen und amerikanisch-indigenen Wurzeln war Maler, Grafiker und Bildhauer, aber auch Fotograf, Choreograf, Kostüm- und Bühnenbildner. Die Konzept- und Performance-Kunst hat er mitgeprägt und gilt als Wegbereiter der Pop-Art, viele sehen ihn als Neo-Dadaisten. Aber Schubladen interessierten ihn nicht. Vor 100 Jahren, am 22. Oktober 1925, wurde Robert Rauschenberg in Texas geboren. Er starb 2008 in Florida.

Rauschenberg war ein humorvoller Mensch: „Dies schlägt sich auch in seinen Arbeiten nieder, die mitunter explizit oder versteckt Verweise beinhalten, die einen zum Schmunzeln bringen“, sagt Yilmaz Dziewior, Direktor des Museums Ludwig in Köln, das eine der größten Sammlungen amerikanischer Pop-Art besitzt.

1951 trat der junge Rauschenberg erstmals an die Öffentlichkeit: Die „White Paintings“, mit gewöhnlicher Wandfarbe bemalte einfarbig weiße Tafeln, waren wohl ein tastender Versuch, etwas radikal Neues zu schaffen. Es folgten monochrom schwarze und schließlich rote Bilder. Rauschenberg wollte das Leben in die Kunst holen. Er nahm – wie ein halbes Jahrhundert zuvor Kurt Schwitters – alltägliche Gegenstände, auch scheinbar wertlose Dinge, Müll, und fügte sie neu zusammen. „Combines“ nannte er diese Kombinationen, die Malerei und Skulptur vermischten. 1954/55 entstand das Werk „Collection“, das wie ein Gemälde an der Wand hängt, aber durch einen Seidenschleier und Holzreste in den Raum hineinragt. Die „Combines“ brachten Rauschenberg internationalen Erfolg. Zeitgleich mit Andy Warhol entdeckte Rauschenberg 1962 das Siebdruckverfahren für sich. Warhol wiederholte stereotyp ein Motiv in fotomechanisch vervielfältigten Siebdrucken, um die Mechanismen der industrialisierten Konsumgesellschaft vor Augen zu führen. Rauschenbergs Siebdrucke, die er bald mit Lithografie, Collage und Zeichnung kombinierte, sind dagegen komplexe, manchmal fein ziselierte Gebilde – oft mit dem Thema Mensch und Technik.

Rauschenberg, Sohn strenger Puritaner, war in einfachen Verhältnissen groß geworden, später spendete der Künstler große Summen für wohltätige Zwecke, unterstützte andere Kunstschaffende und die Demokratische Partei.

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