Roman
„Und dabei haben Sie einen Gefangenen gemacht?“
Hansemann lacht: „Ein englischer Mordbrenner. Ist mir da draußen buchstäblich vor die Füße gefallen, der Bursche …“
Gürckel lacht müde mit und fasst den Gefangenen näher ins Auge. Der erste Luftbandit, dem er je begegnet ist. Ganz junger Mann, fast noch ein Kind. Zittert am ganzen Leib. Ein Stiefel fehlt. Der nackte Fuß ist schon schwarz vom Laufen im Schnee. Der linke Arm hängt ausgekugelt herab. Mit der rechten Hand hält der Junge seine feuchte Hose fest. Wo nicht noch Fetzen seinen nackten Oberkörper bedecken, ist die Haut großflächig verbrannt. Die Augen des Gefangenen fliegen zwischen Gürckel und Hansemann hin und her.
„Haben Sie den so übel zugerichtet, Herr Professor?“
„Ich? Im Gegenteil. Kam dazu, wie ihn ein paar Landarbeiter aus dem Teich gefischt haben. Waren drauf und dran, ihn abzumurksen. Unsereins soll sich zwar nicht einmischen, wenn Terrorflieger den Volkszorn zu spüren bekommen. Aber man ist ja kein Unmensch. Ich nehme an, Sie sind noch in Amt und Würden?“
Otto nickt.
„Dann ist das jetzt Ihr Gefangener“, verkündet Hansemann und reicht Otto die Pistole: „Alfred Wellbeck. Ich betrachte ihn als vorschriftsgemäß einem lokalen Parteifunktionär übergeben. Quittieren können Sie mir das später, ich habe es ein wenig eilig …“
In diesem Moment leiert in der Garage der Anlasser des DKW. Otto hört den Motor heulen, das Getriebe krachen, und schon schießt der Wagen aus der Garage und schlingert kiesspritzend die Auffahrt hinunter. Henriette sitzt am Steuer. Julka daneben.
Jetzt ist alles verloren.
Jetzt ist alles vorbei.
Jetzt ist er wirklich am Ende.
Otto geht ein paar hilflose Schritte, dreht sich um. Aus den Fenstern zum oberen Stockwerk züngeln bereits die Flammen.
Hansemann sieht interessiert dem Wagen hinterher, wirft einen kurzen Blick auf das brennende Haus. „Schätze, Sie können mich nicht in die Stadt fahren?“, sagt er und hebt die Hand zu einem knappen Gruß. Auf dem Parkplatz dreht er sich noch einmal um. „Ich persönlich empfehle einen Schuss in den Rücken. Was heute Recht ist, könnte morgen schon Unrecht sein. Falls Fragen kommen, haben Sie ihn auf der Flucht erschossen!“, ruft er und geht wehenden Mantels weiter.
Otto dreht sich zu dem englischen Flieger um, der jetzt sein Gefangener ist. Der Junge hat sich nicht von der Stelle gerührt und schlottert am ganzen Leib. Sein Atem geht stoßweise. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt leuchtet das Jagdschloss aus allen Fenstern von innen heraus wie ein Strauß frisch gepflückter Kokardenblumen, rot und gelb. Sein Licht fällt auf das Gesicht des Engländers. Es ist geschwollen, die Nase gebrochen, ein Teil der Oberlippe weggerissen. Es sieht aus wie eine Hasenscharte.
„Geh!“, sagt Otto.
Der Engländer rührt sich nicht.
„Go! Go! Hau ab jetzt!“, ruft Otto und macht eine scheuchende Bewegung mit der Pistole. Jetzt ist alles verloren, vorbei. Am Ende. Er entsichert die Waffe.
Heute ist ein schöner Tag. Ich war mit Mama bei der Fasanerie. Bei den Apfelbäumen kann man schön Schlitten fahren. Unten muss man aber bremsen. Sonst plumpst man in den Fluss. Dann haben wir eine Schneeballschlacht gemacht. Das war gemein, weil Mama mich immer trifft und ich sie nie. Ich habe Schnee in den Kragen bekommen. Mama hatte Angst, dass ich mich erkälte. Das war aber nicht schlimm. Danach haben wir Onkel Eugen und Tante Ursel besucht. Das lag auf dem Weg. Tante Ursel war nicht da. Aber Onkel Eugen hat sich sehr gefreut, uns zu sehen. Er hat Mama sogar einen Kuss gegeben. Heute haben wir alle mal keine Angst vor gar nichts. Das hat er gesagt und mich gefragt, wovor ich denn Angst habe. Das Gespenst mit der Insel, habe ich gesagt. Das blöde Bild im Flur. Ich weiß nicht, warum jemand sowas aufhängt. Ich traue mich nicht, vorne alleine auf die Toilette zu gehen. Weil ich dann an diesem Bild vorbeimuss. Da hat Onkel Eugen es einfach abgehängt und gefragt, wovor ich sonst noch Angst habe. „Vor der Schlange im Paradies!“, hat Mama ihm gesagt.
Fortsetzung folgt
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