Schön romantisch

Theater Ulm Annett Göhre hat den Ballett-Klassiker „Giselle“ inszeniert – bejubelt vom Premierenpublikum. Zart-dramatisch spielen die Philharmoniker.

Alle drehen sie durch, wegen der Männer. Das Unglück in der Liebe bringt sie um den Verstand: Sie  heißen Elvira und Amina, Anna Bolena oder Lucia di Lammermoor. Sie sind eigentlich ein Fall für die Psychiatrie, singen aber triumphal: In den Opern Bellinis und Donizettis hat der Wahnsinn Methode. Im romantischen französischen Ballett leiden die Frauen aber ähnlich folgenschwer an gebrochenem Herzen: siehe „Giselle“, 1841 in Paris uraufgeführt mit der feinen, melodischen Musik des Komponisten Adolphe Adam.

Das Mädchen Giselle verliebt sich in einen feschen Burschen, Albrecht, der aber nur vorgibt, vom Lande zu sein – er ist wirklich von Adel, ein Prinz. Aber auch noch verlobt. Und als der eifersüchtige Jagdaufseher Hilarion dessen Identität enthüllt, verfällt Giselle in besagten Wahnsinn und stößt sich Albrechts Degen in die Brust. Sie singt dazu aber keine Arien, sie tanzt fortan fantastisch, geisterhaft. Das ist nämlich das Schicksal der Wilis, die vor ihrer Heirat gestorben sind, verraten von ihren Geliebten, und jetzt als Untote in der Nacht erscheinen und alle, denen sie begegnen, rauschhaft ins Verderben stürzen. So jedenfalls das ursprüngliche Libretto.

Das ist ein gruselmärchenhafter Hit, einer der ganz großen Ballett-Klassiker, und der zweite Teil der Handlung ist ein „Ballet blanc“, ein weißer Akt: Da zeigen die großen Compagnien an den ganz großen Häusern ihre technische Perfektion, das klassische Vokabular auf Spitze. Es gibt selbstverständlich zahllose Choreografien und Inszenierungen des Stoffes – und jetzt hat auch Annett Göhre am Freitagabend am Theater Ulm eine „Giselle“ herausgebracht: mit gerademal zwölf Tänzerinnen und Tänzern (und noch ein paar Akteuren aus Statisterie, der hauseigenen Ballettschule und der Ballettschule Ocker). Verrückt mutig?

Doch, das geht auf  – und zwar vom Premierenpublikum bejubelt. Die Protagonisten sind vorzüglich besetzt, die naturgemäß simple Geschichte ist klar und nett erzählt, so flötenweich und walzerverspielt wie das Orchester den Tanzboden auslegt, um dann auch mit Bläserattacke dramatisch zu werden. Wie eine Gruppe aus Porzellan beginnen die Figuren erstarrt und lösen sich ins Spiel. Fröhlich und brav kostümiert ist das Dorf- und Blumenglück. Die Bühne (Ausstattung: Annett Hunger) ist mit floral dekorierten Elementen bestückt, deren Malerei offenbar von Georgia O‘Keeffe inspiriert ist. Beständig werden die Kulissenteilen herumgeschoben, was im Übrigen die Aktionsfläche verkleinert, weshalb mangelndes Personal nicht so auffällt.

Ein Mantel ist das Erkennungsattribut des falschen Albrecht, das Hilarion entdeckt und ihm böse enttarnend hinknallt, sodass Giselle erbleicht. Und die zickige Bathilde (Nora Paneva), die Verlobte, gibt ihr den Rest. Es erbleicht nach dem Wendepunkt aber auch die Malerei ins Schwarzweiße, ins farblos Fahle. Giselle – ganz unschuldig, wie fremdgetrieben verkörpert von Maya Mayzel – hat schon, angemessen romantisch sehnsüchtig, zuvor einige Schwächeanfälle gezeigt, aber jetzt sucht sie, im verständlichen Wahnsinn, keinen Degen, den es auch gar nicht gibt, sie stranguliert sich mit einem der bühnenhimmelhoch fallenden Stoffbänder.

Dann der zweite, in Ulm nicht weiße, sondern eher düster schwarze Akt: sphärisch-spukhafte Atmosphäre, schon ein bisschen Halloween im Theater. Jetzt flirren, zittern, zucken die Wilis, die auch liebesenttäuschte Männer in ihren Reihen haben, gespenstisch umher – und erledigen zunächst Hilarion, der das Grab Giselles besucht: ein eindrucksvoller Totentanz von Gabriel Mathéo Bellucci. Stark auch Seungah Park als Myrtha, Königin der Wilis: gebieterisch, streng – und als Einzige der Damen auf Spitze tanzend. Ansonsten choreografiert Annett Göhre eine Mischung aus klassischem Repertoire (Pirouetten, Arabesquen, Sprünge, Hebungen) und modernem Ausdruck mit deftiger Bodenberührung (es stören ja auch keine Tutus). Nichts Spektakuläres, aber überzeugende Unterhaltung mit viel Tanz.

Und wie geht‘s aus, in Ulm? Giselle will ja nun doch Albrecht retten – typisch Romanik, erfüllte Liebe gibt es nicht im realen Leben, sondern erst im Jenseits. Und sie tanzt mit Albrecht, von Tsung-Jui Yang sehr jugendlich-männlich, stolz und staunend verkörpert, bis in den Tag hinein, auch zu einem elegisch poetischen Cello-Solo. Die Wilis müssen sich verkriechen, und jetzt wird es wieder bunt auf der Bühne. Und wenn Giselle nicht gestorben wäre, so lebten und liebten sie bis heute. Stattdessen ein Happy End mit Bathilde? Will Albrecht aber nicht. Es bleibt tragisch.

Wie in den romantischen Opern. Und man muss sagen, Adolphe Adam hat rund 40 Opern komponiert, aber das Ballett „Giselle“ ist seine beste, auch wenn nicht gesungen wird. Jubel also im sehr gut besuchten Theater Ulm. Und den hatten auch Dirigent Panagiotis Papadopoulos und die zart, gefühlvoll diese Romantik ausbreitenden Philharmoniker verdient.

„Migrant“ klingt nach DDR-Ranzen

Comedy Der 38-jährige Deutsch-Türke Osan Yaran begeistert das Publikum in Neu-Ulm mit seinem Programm „Aus Prinzip!“.

Vom Lidl-Filialleiter auf Deutschlands Bühnen – das ist die Geschichte von Osan Yaran, der das Publikum im ausverkauften Edwin-Scharff-Haus zum Lachen brachte. „Wo wäre ich lieber an einem Freitagabend als in Neu-Ulm?“, fragte der sympathische Stand-up-Komiker mit der bodenständigen Philosophie „Arbeit schlägt Talent“ und schloss eine Anekdote vom Restaurantbesuch in der Donaustadt an. Wo man denn nach der Show in Neu-Ulm feiern könne, wollte der 38-jährige Deutsch-Türke aus Berlin, der sich auf der Bühne einer Mischung aus geschliffenem Standardhochdeutsch und türkischen beziehungsweise arabischen Einschüben bedient, vom Kellner wissen. Der habe schlicht „in Augsburg“ geantwortet.

Yarans Comedy möchte – in den Worten des Komikers – politisch unkorrekt sein, und das ist sie zuweilen auch, verlässt dabei aber nie die Komfortzone dessen, was noch erträglich ist. Da schießen andere Kollegen seiner Zunft, wie etwa Chris Tall, mit weitaus schwereren Geschützen.

Beispiel? Natürlich darf sich Yaran, der für den Quatsch Comedy Club die „Talentschmiede“ moderierte und derzeit mit dem Online-und-bald-schon-Bühnenformat „Lass labern!“ groß durchstartet, wie sein Vorbild Kaya Yanar die Freiheit herausnehmen, als Kind einer Gastarbeiterfamilie über andere Menschen mit Migrationshintergrund herzuziehen. Und er macht das in einer ganz und gar drolligen Weise, wenn er dafür plädiert, den Begriff „Migrant“, der sich eher nach „DDR-Schulranzen“ anhöre, mit dem positiv konnotierten „Pokemon“ zu ersetzen, nur um dann bei einer fiktiven Schlagzeile wie „Deutsche machen Jagd auf Pokemon“ zu landen.

Und natürlich gibt es da auch noch den Fäkalhumor, der allerdings in der Natur der Sache liegt. Während seiner „Aus Prinzip!“-Tour spricht Yaran über jüngste Erfahrungen mit seinem einjährigen Sohn. Eltern wissen um den Fäkalgehalt des Nachwuchses, insofern ist das auch familientauglicher Humor.

Die Pointen sitzen meistens, wenn nicht, weckt Yaran Aufmerksamkeit mit seinem extrovertierten Spiel und indem er sich mit dem Publikum „connectet“. „Cowboy Julius“ kann davon ein Lied singen, wurde der junge Mann, der die Show tatsächlich in Western-Kleidung besuchte, doch immer wieder zum Gegenstand flapsiger Sprüche: „Ihr seid fünf Freunde und reitet gern.“

Die Rentner in ihren Radlerhosen

Unterhaltung Comedienne Tahnee punktet im vollbesetzten Roxy mit Pfiff und Wortwitz.

„Senden finde ich ja besonders schön. Empfangen habe ich noch nicht gefunden.“ Die Begrüßungsrunde ist der erste Gradmesser für die Tagesform eines Stand-up-Comedians, wenn die Leute im Publikum abfragt werden, wo sie denn herkommen und was sie so arbeiten. Bei Tahnee Schaffarczyk erfuhr man am Samstag, dass die Besucher in der komplett gefüllten Roxy-Werkhalle bis aus Göppingen angereist waren und eine Supermarktverkäuferin von dort einen Platz ganz vorne ergattert hat: „Und was läuft so im Lager bei Lidl?“

Aus besagtem Senden ist eine Schwimmmeisterin da, die für ihren Job weit aus dem Osten hergezogen ist. Das muss natürlich erörtert werden. „Ist das Schwimmbad in Senden was Besonderes?“ Schweigen im Roxy, das sich in Lacher auflöst: Das Publikum kitzeln kann sie gut, die 33 Jahre alte frisch verheiratete Kölnerin, die ihre sexuelle Orientierung offensiv in ihr Programm „Blütezeit“ einbaut. „Eine Lesbenplage? Da muss irgendwo ein Nest sein.“

Die Vita der gelernten Tänzerin, bei der sich auch das Singen und das Schauspielern dazugesellt haben, ist ein beeindruckendes Potpourri aus Fernsehkomikerin, Radiosprecherin und Moderatorin, bei der sich die privaten und öffentlich-rechtlichen Gastgeber durchwechseln: Tahnee ist massenkompatibel, jedenfalls in der Abteilung Comedy-Unterhaltung, auch wenn sie verbal in sämtlichen Körperregionen unterwegs ist und man sich ihren Schlaf- und Badezimmerreport nicht immer bildlich vorstellen mag.

Baumkuchen ohne Baum

Aber die Kölnerin macht das immer mit einem gewissen Pfiff und einem eindrucksvollen Wortwitz, bei dem man über die Sprüche lachen kann, ohne den Sinn verstehen zu müssen. Auch wenn sie nur Texte aufsagt, merkt man ihre tänzerische Sozialisation, sie unterstreicht jede Silbe mit einer passenden kleinen Bewegung, hat auch kein Headset und hält nach alter Schule das Mikro in der Hand, um mit der anderen ausladend zu gestikulieren.

Und mit ihrer stimmlichen Variationsbreite könnte sie einen ganzen Comicfilm synchronisieren. Auf diese Weise lästert Tahnee über Tratschtanten im Treppenhaus, Rentner in Radlerhosen und wünscht sich einen KI-Assistenten, der beim Schlussmachen dem Partner die Trennungsbotschaft entgegenreimt: „Du bist die Qualle am Strand von Malle.“ Zwischendurch wird sie auch politisch, äußert sich als Merkel-Fan und schimpft auf den Plan, dass man Vegetarisches nicht mehr als Schnitzel bezeichnen darf. „Beim Baumkuchen erwartet auch keiner einen Baum.“ Da kriegt die Comedy sogar FAZ-Niveau – zumindest einen kurzen Moment lang.

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