Schön romantisch

  • Ein dunkles, fantastisches Tanz-Märchen: „Giselle“ am Theater Ulm. Foto: flaviamash photography
  • Ein starkes Paar: Maya Mayzel als Giselle und Tsung-Jui Yang als Albrecht. Foto: flaviamash photography

Theater Ulm Annett Göhre hat den Ballett-Klassiker „Giselle“ inszeniert – bejubelt vom Premierenpublikum. Zart-dramatisch spielen die Philharmoniker.

Alle drehen sie durch, wegen der Männer. Das Unglück in der Liebe bringt sie um den Verstand: Sie  heißen Elvira und Amina, Anna Bolena oder Lucia di Lammermoor. Sie sind eigentlich ein Fall für die Psychiatrie, singen aber triumphal: In den Opern Bellinis und Donizettis hat der Wahnsinn Methode. Im romantischen französischen Ballett leiden die Frauen aber ähnlich folgenschwer an gebrochenem Herzen: siehe „Giselle“, 1841 in Paris uraufgeführt mit der feinen, melodischen Musik des Komponisten Adolphe Adam.

Das Mädchen Giselle verliebt sich in einen feschen Burschen, Albrecht, der aber nur vorgibt, vom Lande zu sein – er ist wirklich von Adel, ein Prinz. Aber auch noch verlobt. Und als der eifersüchtige Jagdaufseher Hilarion dessen Identität enthüllt, verfällt Giselle in besagten Wahnsinn und stößt sich Albrechts Degen in die Brust. Sie singt dazu aber keine Arien, sie tanzt fortan fantastisch, geisterhaft. Das ist nämlich das Schicksal der Wilis, die vor ihrer Heirat gestorben sind, verraten von ihren Geliebten, und jetzt als Untote in der Nacht erscheinen und alle, denen sie begegnen, rauschhaft ins Verderben stürzen. So jedenfalls das ursprüngliche Libretto.

Das ist ein gruselmärchenhafter Hit, einer der ganz großen Ballett-Klassiker, und der zweite Teil der Handlung ist ein „Ballet blanc“, ein weißer Akt: Da zeigen die großen Compagnien an den ganz großen Häusern ihre technische Perfektion, das klassische Vokabular auf Spitze. Es gibt selbstverständlich zahllose Choreografien und Inszenierungen des Stoffes – und jetzt hat auch Annett Göhre am Freitagabend am Theater Ulm eine „Giselle“ herausgebracht: mit gerademal zwölf Tänzerinnen und Tänzern (und noch ein paar Akteuren aus Statisterie, der hauseigenen Ballettschule und der Ballettschule Ocker). Verrückt mutig?

Doch, das geht auf  – und zwar vom Premierenpublikum bejubelt. Die Protagonisten sind vorzüglich besetzt, die naturgemäß simple Geschichte ist klar und nett erzählt, so flötenweich und walzerverspielt wie das Orchester den Tanzboden auslegt, um dann auch mit Bläserattacke dramatisch zu werden. Wie eine Gruppe aus Porzellan beginnen die Figuren erstarrt und lösen sich ins Spiel. Fröhlich und brav kostümiert ist das Dorf- und Blumenglück. Die Bühne (Ausstattung: Annett Hunger) ist mit floral dekorierten Elementen bestückt, deren Malerei offenbar von Georgia O‘Keeffe inspiriert ist. Beständig werden die Kulissenteilen herumgeschoben, was im Übrigen die Aktionsfläche verkleinert, weshalb mangelndes Personal nicht so auffällt.

Ein Mantel ist das Erkennungsattribut des falschen Albrecht, das Hilarion entdeckt und ihm böse enttarnend hinknallt, sodass Giselle erbleicht. Und die zickige Bathilde (Nora Paneva), die Verlobte, gibt ihr den Rest. Es erbleicht nach dem Wendepunkt aber auch die Malerei ins Schwarzweiße, ins farblos Fahle. Giselle – ganz unschuldig, wie fremdgetrieben verkörpert von Maya Mayzel – hat schon, angemessen romantisch sehnsüchtig, zuvor einige Schwächeanfälle gezeigt, aber jetzt sucht sie, im verständlichen Wahnsinn, keinen Degen, den es auch gar nicht gibt, sie stranguliert sich mit einem der bühnenhimmelhoch fallenden Stoffbänder.

Dann der zweite, in Ulm nicht weiße, sondern eher düster schwarze Akt: sphärisch-spukhafte Atmosphäre, schon ein bisschen Halloween im Theater. Jetzt flirren, zittern, zucken die Wilis, die auch liebesenttäuschte Männer in ihren Reihen haben, gespenstisch umher – und erledigen zunächst Hilarion, der das Grab Giselles besucht: ein eindrucksvoller Totentanz von Gabriel Mathéo Bellucci. Stark auch Seungah Park als Myrtha, Königin der Wilis: gebieterisch, streng – und als Einzige der Damen auf Spitze tanzend. Ansonsten choreografiert Annett Göhre eine Mischung aus klassischem Repertoire (Pirouetten, Arabesquen, Sprünge, Hebungen) und modernem Ausdruck mit deftiger Bodenberührung (es stören ja auch keine Tutus). Nichts Spektakuläres, aber überzeugende Unterhaltung mit viel Tanz.

Und wie geht‘s aus, in Ulm? Giselle will ja nun doch Albrecht retten – typisch Romanik, erfüllte Liebe gibt es nicht im realen Leben, sondern erst im Jenseits. Und sie tanzt mit Albrecht, von Tsung-Jui Yang sehr jugendlich-männlich, stolz und staunend verkörpert, bis in den Tag hinein, auch zu einem elegisch poetischen Cello-Solo. Die Wilis müssen sich verkriechen, und jetzt wird es wieder bunt auf der Bühne. Und wenn Giselle nicht gestorben wäre, so lebten und liebten sie bis heute. Stattdessen ein Happy End mit Bathilde? Will Albrecht aber nicht. Es bleibt tragisch.

Wie in den romantischen Opern. Und man muss sagen, Adolphe Adam hat rund 40 Opern komponiert, aber das Ballett „Giselle“ ist seine beste, auch wenn nicht gesungen wird. Jubel also im sehr gut besuchten Theater Ulm. Und den hatten auch Dirigent Panagiotis Papadopoulos und die zart, gefühlvoll diese Romantik ausbreitenden Philharmoniker verdient.

Die geisterhafte Giselle tanzt mit dem geliebten Albrecht durch die gruselige Nacht.

NÄCHSTER ARTIKEL