Ein Hype und seine Gefahren

Abnehmspritzen Die Aussicht auf purzelnde Kilos ohne Mühsal führt in Deutschland zu negativen Auswüchsen: Der Schwarzmarkt boomt. Rezepte und Medikamente werden gefälscht.

Semaglutid und Tirzepatid mögen nur Eingeweihten ein Begriff sein, doch die Wirkstoffe haben die Welt verändert. Auf ihnen basieren Abnehmspritzen wie Ozempic, Wegovy und Mounjaro, mit deren Hilfe Millionen Menschen weltweit Hunderte Millionen Kilogramm Körpergewicht verloren haben.

Besonders wild ist der Hype in den USA, wo er von Hollywood-Stars und Milliardären wie Elon Musk befeuert wurde. Mittlerweile sind die Spritzen, die einmal pro Woche angewendet werden und den Appetit drastisch reduzieren, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Laut New York Times zerbrechen immer mehr Ehen daran, dass einer von beiden spritzt – und auf einmal vieles anders ist. Doch die irren Blüten des Ozempic-Booms schwappen immer mehr auch herüber nach Deutschland.

Auch hierzulande wollen viele abnehmen, am besten ohne eine langwierige und anstrengende Verhaltensänderung mit gesünderer Ernährung und mehr Sport. Doch anders als in den USA, wo viele Krankenkassen schon seit Jahren für die Spritzen bezahlen, weil sie sich langfristig geringere Kosten versprechen, übernehmen die deutschen Kassen die Kosten nur für Diabetiker. Für Übergewichtige gelten die Medikamente als Lifestyle-Produkte. Die Folgen des restriktiven Ansatzes: ein boomender und gefährlicher Schwarzmarkt.

„Papierrezepte werden von manchen Kriminellen inzwischen oft so gut gefälscht, dass Apothekerinnen und Apotheken kaum eine Chance haben, sie zu erkennen“, sagt ein Sprecher des Branchenverbands ABDA. Fälschungen von E-Rezepten seien bisher nicht bekannt. Genaue Zahlen sind nicht nur den Apothekern unbekannt – sie sind auch schwer zu erheben. Die AOK Niedersachsen hat 2024 innerhalb von 13 Monaten über 2900 Fälschungen gezählt, der Schaden: über eine Million Euro. Bei den Tätern handelt es sich laut dem Innenministerium von Baden-Württemberg häufig um überregional agierende Gruppen mit osteuropäischer Herkunft.

Klar ist: „Rezeptfälschung ist eine Straftat – und wird von Polizei und Staatsanwaltschaft verfolgt“, sagt der ABDA-Sprecher. Problematisch sei, dass sich Patienten, die Rezepte fälschen oder Präparate auf dem Schwarzmarkt von Kriminellen kauften, selbst in höchste Gefahr brächten.

Wie dreist die Betrüger zum Teil vorgehen, weiß die Apothekerin Jasmin Hamad, die nach eigenen Angaben in ihrer Filiale in Berlin einmal pro Monat ein gefälschtes Rezept in der Hand hält. Nach dem Hype um Ozempic sei die Zahl der Betrugsversuche mit Fake-Rezepten sprunghaft angestiegen, mittlerweile habe es sich eingependelt. „Da kommen dann super schlanke Mädchen und sagen, sie würden für ihren Vater oder Opa ein Rezept einlösen, reden dabei viel, sind hippelig, schauen einen aber nicht an“, erzählt sie.

Ein vergleichsweise einfacher Fall für die Apothekerin. Sie erzählt, dass sich Filialen in der Umgebung auch mal anrufen würden, um zu warnen, dass mal wieder ein Betrüger unterwegs sei, aber insgesamt findet Hamad es schade, dass die Apotheken nicht besser untereinander vernetzt sind. Fallen sie auf ein gefälschtes Rezept herein, bleiben sie auf den Kosten sitzen.

Doch Hamad hat eine Methode entwickelt, mit der sie bisher nicht übers Ohr gehauen wurde. „Wenn es kein Stammkunde ist und das Medikament Fälschungspotenzial hat, rufe ich immer beim Arzt an und frage nach“, sagt Hamad. Meistens gingen die Betrüger, die bewusst zu Uhrzeiten kämen, in denen Ärzte keine Sprechstunde mehr hätten, dann von sich aus.

Für die Abnehmwilligen selbst geht das größte Risiko von gefälschten Produkten aus. Laut AOK Niedersachsen vertreiben Kriminelle zum Beispiel umetikettiertes Insulin als vermeintliches Ozempic. Das stelle ein großes Gesundheitsrisiko dar. „Eine Anwendung kann für Nicht-Diabetiker lebensbedrohlich werden“, warnt die Krankenkasse.

Ausländische Plattformen

Doch selbst wenn ein zugelassener Arzt das Rezept für einen Privatzahler ausstellt, heißt das nicht, dass der Patient das Medikament aus medizinischen Gründen benötigt. Telemedizin-Plattformen, viele mit Sitz im Ausland, bieten Rezepte für die Abnehmspritzen auf Basis von Online-Fragebögen an. Die Bundesärztekammer betont auf Anfrage dieser Zeitung, dass sie nicht beurteilen könne, unter welchen Voraussetzungen Ärzte im EU-Ausland Medikamente verschreiben dürften.

„Einen erheblichen Verstoß gegen die ärztliche Sorgfalt“ würde es nach deutschem Berufsrecht darstellen, wenn die Rezepte ausschließlich auf Wunsch des Patienten und ohne Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ausgestellt würden, erklärt Samir Rabbata von der Ärztekammer. Die Einhaltung der nötigen Sorgfalt setze mindestens voraus, dass die Indikation in einem persönlichen Arzt-Patienten-Gespräch gewissenhaft geprüft werde. „Das Ausfüllen eines Fragebogens ohne persönlichen Kontakt zwischen Patienten und Ärztin oder Arzt ist nicht ausreichend.“

Werden Bier und Wein bald teurer?

Alkohol Die Weltgesundheitsorganisation kritisiert lasche Regeln für alkoholische Getränke und verlangt höhere Steuern. Bei Krankenkassen und einigen Politikern in Deutschland rennt sie offene Türen ein.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirft den Europäern vor, zu wenig gegen den durch Alkoholkonsum verursachten Krebs zu tun. Alkohol sei für sieben verschiedene Krebsarten verantwortlich. Allein für das Jahr 2020 verzeichnet die WHO in der EU 111.300 neue Krebsfälle, die durch Alkohol verursacht wurden. 93.000 erkrankte Menschen starben demnach an den Folgen.

Gundo Weiler, Direktor für Prävention und Gesundheitsförderung bei der WHO in Europa, drängt zu schnellem Handeln. Die EU-Länder zahlten einen „zu hohen Preis für Alkohol“. Einige sähen Alkohol als „kulturelles Erbe“, so Weiler. „Krankheit, Tod und Behinderung sollten aber nicht als Teil der europäischen Kultur normalisiert werden.“ Höhere Alkoholsteuern, Werbeverbote und eine Anhebung des Mindestalters könnten laut WHO den Alkoholkonsum reduzieren, was das Krebsrisiko deutlich senke.

Jürgen Hohnl, Chef des Verbandes der Innungskrankenkassen, fühlt sich von den Aussagen bestätigt. Denn die Innungskrankenkassen setzen sich seit Langem dafür ein, die Einnahmen des Staates durch Alkohol- und Tabak-Steuern zumindest anteilig direkt in die gesetzliche Krankenversicherung fließen zu lassen. „Dies wäre ein wichtiger Schritt, um die erheblichen Kosten für die Behandlung der gesundheitlichen Folgen des Konsums zumindest teilweise abzufedern.“

„Suchtpolitisch sinnvoll“

Die WHO-Forderungen zur stärkeren Regulierung und Besteuerung von Alkohol unterstrichen „die Notwendigkeit, gesundheitsschädigendes Verhalten mit klaren Preissignalen zu belegen“. Allein der Alkoholkonsum habe ökonomische Folgekosten von rund 57 Milliarden Euro. Eine zweckgebundene Abgabe „würde die angespannte Finanzsituation der Krankenkassen mildern, wäre verursachergerecht und würde die Beitragszahlenden insgesamt entlasten“. Er gehe von 0,8 Prozentpunkten bei den Beiträgen aus.

Für den Gesundheitspolitiker Ates Gürpinar (Die Linke) wäre „eine deutliche Erhöhung der Alkoholsteuer aus suchtpolitischer Sicht sinnvoll, da sie den Konsum giftiger Substanzen senken kann. Das Ziel muss es jedoch sein, damit aktiv Süchte zu begrenzen und nicht, ein durch Privatisierung und Unterfinanzierung belastetes Gesundheitssystem querzufinanzieren“. Im Übrigen brauche man eine Suchtpolitik, „die Prävention, Aufklärung und soziale Unterstützung in den Mittelpunkt stellt und nicht nur eine fiskalische Lenkung“. Dass die WHO ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum und Krebsfällen habe hinweisen müssen, „zeigt einmal mehr, wie sehr bislang insbesondere in Deutschland der Gesundheitsschutz den Profitinteressen der Alkohol- und Tabakindustrie untergeordnet wurde“.

Für den gesundheitspolitischen Sprecher der SPD, Christos Pantazis, gehören Alkohol- und Tabakkonsum zu den größten vermeidbaren Ursachen schwerer Erkrankungen. Steuererhöhungen könnten deshalb „ein wirksames Instrument sein – wenn sie klug ausgestaltet sind“. Eine direkte Zweckbindung der Einnahmen an die gesetzliche Krankenversicherung sei allerdings haushaltsrechtlich nicht zulässig. Es brauche „ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Prävention von Sucht- und Konsumfolgen – von Preisanreizen über Werbe- und Sponsoringbeschränkungen bis hin zu gezielter Aufklärung und Beratungsangeboten. Hier geht es um Bewusstsein, Bildung und Verantwortung – nicht um Symbolpolitik“.

Dagegen ist es für Martin Sichert, den gesundheitspolitischen Sprecher der AfD, „nicht die Aufgabe des Staates, Menschen von allen Lebensrisiken fernzuhalten“. Staatliche Verbote und Strafsteuern seien unangebracht. Man müsse „als Gesellschaft davon wegkommen, immer alles zu verteuern, was bestimmten Gruppen nicht ins Bild passt“. Er befürworte aber mehr Aufklärung über die Risiken des Alkoholkonsums.

Laut einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag der IKK classic aus dem Sommer sind 63 Prozent der Bürger in Deutschland ab 18 Jahren grundsätzlich für eine Erhöhung der Alkohol- und Tabaksteuer. 42 Prozent der Deutschen sind zudem der Meinung, dass die Einnahmen aus diesen Steuern in voller Höhe direkt den gesetzlichen Krankenkassen zugutekommen sollten.

Kommentar

Faszination Abgrund

Noch kann man sich hierzulande mit leichtem Grusel dem politischen Drama um die Regierungsbildung im Nachbarland hingeben. Aber die Krise hat das Potenzial, auch Europa mitzureißen.

Die Faszination des politischen Abgrunds entfaltet vor allem aus der Ferne ihre Wirkung, wenn man noch nicht selbst betroffen ist. Wer Deutschland schon in schwerem Fahrwasser wähnt, sollte nach Frankreich schauen. Dort bietet die politische Klasse ein Schauspiel, das schon längst seine komödienhaften Züge verloren hat. Im Gegenteil, es könnte sich zu einer Tragödie auswachsen, die ganz Europa erfasst.

Vier Regierungschefs hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seit der Parlamentswahl im vergangenen Jahr verschlissen, ohne dass die politische Blockade zwischen den drei Lagern Links, Mitte und Rechts gelöst worden wäre. Währenddessen driftet sein Land mit seiner schwächelnden Wirtschaft und einer Schuldenlast von fast dreieinhalb Billionen Euro weiter auf die Unregierbarkeit zu. Reformen sind undenkbar, solange sich die politischen Kontrahenten nicht auf Kompromisse einigen können. Und das ist schwer, denn mit Koalitionsregierungen von Parteien aus unterschiedlichen Lagern hat Frankreich so gut wie keine Erfahrung. Momentan eint die beiden stärksten Blöcke Links und Rechts nur die Forderung, keine Abstriche am Sozialstaat hinnehmen zu wollen. Macrons Rentenreform hat schon Unmut ausgelöst, Sparanstrengungen oder Maßnahmen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, lehnen sie ab – und drohten damit, auch die neue Ministerriege von Regierungschef Sébastien Lecornu zu Fall bringen. Ob er sie mit dem Aussetzen der Rentenreform davon abhalten kann, ist unklar.

Falls nicht, stünde Frankreich als eine der einstigen Lokomotiven der Europäischen Union mehr oder weniger still. Und genau das ist es, was das Land und die EU zurzeit am wenigsten brauchen können. Denn bei einer fortgesetzten Lähmung droht eine Schuldenkrise wie vor anderthalb Jahrzehnten mit Griechenland, nur in viel bedrohlicherem Maßstab. Auch in anderen Fragen wird ein aktives Frankreich gebraucht, von der Wirtschaft über die EU-Verteidigung bis hin zum Nahost-Konflikt.

Die Frage ist nur: Wie kann das Land aus diesem Dilemma herausfinden? Falls Lecornu erneut scheitert, bleiben Macron im Grunde nur zwei Schritte: eine erneute vorgezogene Parlamentswahl wie 2024 oder sein eigener Rücktritt. Letzterer würde an den Mehrheitsverhältnissen im Parlament nichts ändern. Eine Parlamentswahl hingegen könnte zwar für Klarheit sorgen – aber sicher ist das nicht. Sie könnte im Gegenteil die Zersplitterung auch zementieren.

Für Deutschland tut sich nun eine Herausforderung auf, und gleichzeitig eine Chance. Kamen Impulse für die Entwicklung Europas in den Merkel-Jahren und der Ampel-Zeit zumeist aus Paris, könnte nun Friedrich Merz die Initiative ergreifen und als Taktgeber die ohnehin anvisierte Führungsrolle Deutschlands in Europa stärken. Das dürfte allerdings schwieriger getan als gesagt sein. Denn Deutschland knabbert zurzeit selbst an enormen Problemen herum, die alle Aufmerksamkeit des Kanzlers beanspruchen. Und falls Frankreich tatsächlich ins Trudeln geriete, käme noch ein weiteres hinzu. Die Faszination des Abgrunds könnte sich dann schnell in ein Schreckensbild wandeln.

leitartikel@swp.de

Kommentar

Klientelpolitik rächt sich

Die Junge Gruppe der Union im Bundestag hat ein Problem mit dem Gesetzesentwurf für die Stabilisierung des Rentenniveaus. Es droht erneut eine wackelige Kanzlermehrheit. Überraschen sollte das nicht.

Der Unionsnachwuchs fordert seit Jahren eine Kehrtwende in der Rentenpolitik. Die von ihm geforderte Kopplung der Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung schaffte es sogar ins CDU-Grundsatzprogramm – zum Bedauern einiger Älterer in der Führung. In den Koalitionsverhandlungen war davon keine Rede mehr, stattdessen bekam die SPD die Verlängerung der Haltelinie zugebilligt, die CSU die Ausweitung der Mütterrente. Beides im Übrigen von Ökonomen massiv kritisierte Maßnahmen.

Es rächt sich nun, dass Union und SPD gezielt Klientelpolitik mit Blick auf ältere Wählergruppen machen. Schon vor Monaten warnte der Vorsitzende der Jungen Gruppe Reddig vor den Belastungen für die jüngeren Generationen auch wegen der Rentenpläne. Und nun hagelt es dieser Tage nur so an Ideen für Zumutungen für die Jüngeren in der Bevölkerung – Stichwort Wehrdienst. Da passt das Stoppschild der jungen Unionler ganz gut ins Bild.

Zumal das Argument, auch jüngere Beitragszahler würden durch ein festgeschriebenes Rentenniveau profitieren, schon widerlegt wurde, als die Ampel genau diesen Schritt plante – die finanzielle Belastung durch höhere Rentenbeiträge übersteigt die Vorteile des höheren Niveaus.

Um ein weiteres Abstimmungsdebakel von Schwarz-Rot zu verhindern, sucht Fraktionschef Jens Spahn hoffentlich zeitnah das Gespräch. Eine Lösung könnte zum Beispiel eine konkretere Formulierung im Gesetzesentwurf sein – die Reaktion von Kanzler Merz zum Aufstand in den eigenen Reihen deutet darauf hin. Oder man kommt der Jungen Gruppe mit einer deutlichen Ausweitung der Frühstartrente entgegen, also der staatlich bezuschussten kapitalgedeckte Altersvorsorge für die junge Generation.

Darum platzte der Kompromiss zum Wehrdienst

Bundeswehr Eigentlich wollte Schwarz-Rot am Dienstagabend der Öffentlichkeit eine Einigung präsentieren. Dann kam es zum Eklat – vorläufiger Höhepunkt eines langen Streits.

Berlin. Was war das für ein Auftritt vor wenigen Wochen: Gemeinsam mit Kanzler Friedrich Merz (CDU) trat Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) Ende August vor die Presse, um den Plan für einen neuen Wehrdienst vorzustellen. Das Kabinett hatte sogar in seinem Haus getagt, in einem abhörsicheren Raum namens „U-Boot“. Das Signal von Schwarz-Rot: Wir haben verstanden, Sicherheit hat bei uns Priorität, wir machen Deutschland verteidigungsbereit.

Und jetzt das: Am Dienstagnachmittag warten in einem Sitzungssaal des Bundestags Dutzende Journalisten auf die gemeinsame Pressekonferenz der Top-Verteidigungspolitiker von CDU, CSU und SPD. Angekündigt waren letzte Details „zum neuen Wehrdienst und dem dazugehörigen Wehrdienst-Modernisierungsgesetz“. Doch dann tritt statt der erwarteten Politiker ein Sprecher ans Mikrofon und teilt mit, die Sache sei leider abgesagt. Das kommt in Berlin nun wirklich nicht alle Tage vor.

Das Problem lag offenbar bei der SPD. In der Fraktionssitzung der Sozialdemokraten gab es am Nachmittag nach Angaben von Teilnehmern heftige Diskussionen über die Eckpunkte der Einigung, die die Unterhändler beider Seiten vereinbart hatten. Pistorius hatte sich seinerseits zuvor „ein bisschen skeptisch“ zu dem ausgehandelten Losverfahren geäußert, aber hinzugefügt, er wolle sich nicht querstellen. Ein Sprecher der Unionsseite versicherte, CDU und CSU seien einigungsbereit gewesen.

Der schon lange währende Streit um eine Neuorganisation des Wehrdienstes erreicht damit seinen vorläufigen Höhepunkt. Pistorius hatte bereits zu Ampel-Zeiten einen ersten Entwurf für ein Gesetz vorgelegt, der dann erst von Kanzler Olaf Scholz (SPD) ausgebremst wurde und schließlich dem Ampel-Aus zum Opfer fiel.

Ein politisches Ausrufezeichen

Aber auch in der schwarz-roten Koalition häuften sich die Störmanöver. Die Union, die im Wahlkampf noch von einer „Wehrpflicht“ geredet hatte, drängte unablässig auf mehr Zwangselemente. Pistorius wiederum hatte mit erheblichem Widerstand gegen jede Form von Verpflichtung in den eigenen Reihen zu tun. Noch kurz vor jener Kabinettsitzung im August setzte Außenminister Johann Wadephul (CDU) mit einem kurzzeitigen Ministervorbehalt ein politisches Ausrufezeichen. Merz wiederum sprach in Interviews zuletzt davon, dass man mit reiner Freiwilligkeit wohl nicht weit kommen werde.

Aufgrund der Uneinigkeit war die eigentlich bereits für vergangene Woche im Bundestag geplante erste Beratung des Gesetzes auf diese Woche verschoben worden. Am Wochenende machten dann Meldungen über das Losverfahren die Runde. Offen sind allerdings noch immer zwei entscheidende Fragen: Wann welche Zahl von Wehrdienstleistenden erreicht sein soll – und ob für eventuelles Nachsteuern erneut der Bundestag eingeschaltet werden soll.

Regierung plant Sparpaket

Gesundheit Ministerin Nina Warken (CDU) will die Kassenbeiträge für 2026 stabilisieren. Ihr Plan ist am Mittwoch im Kabinett.

Berlin. Die Bundesregierung will mit Sparmaßnahmen einen weiteren Anstieg der Krankenkassenbeiträge im nächsten Jahr verhindern. Dass das gelingt, daran gibt es jedoch Zweifel. Der Verband der Ersatzkassen, zu denen etwa TK, Barmer und DAK gehören, nennt das von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) vorgelegte „kleine Sparpaket“ zwar einen ersten wichtigen Schritt, um die Kostenexplosion zu begrenzen. „Die Beiträge werden dennoch steigen“, so Vorstandschefin Ulrike Elsner. Denn auch für 2026 erwarte man „eine sehr dynamische Ausgabenentwicklung und ein weiteres Auseinandergehen der Ausgaben- und Einnahmenschere“.

Für die grüne Gesundheitspolitikerin Paula Piechotta setzt Warken „auf Kürzungs-Stückwerk“. Man brauche Reformen, „die das System nachhaltig stabilisieren, statt immer neue Notoperationen am offenen Herzen der Krankenkassen“. Am Mittwoch will das Bundeskabinett beschließen, rund zwei Milliarden Euro einzusparen, um die Beiträge 2026 stabil halten zu können. In erster Linie sind die Kliniken betroffen, die eine zugesagte Zahlung von etwa 1,7 Milliarden Euro nicht bekommen sollen. Zudem sollen 100 Millionen Euro bei den Verwaltungskosten der Kassen eingespart werden. Weitere 100 Millionen sollen weniger in einen Fonds zur Versorgungsforschung fließen.

Für den Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, ein „Wortbruch gegenüber den Krankenhäusern“. Auch für den linken Gesundheitspolitiker Ates Gürpinar ist es der falsche Weg, „die angeschlagenen Krankenhäuser jetzt noch mit einem Sparzwang zu drangsalieren und den Versicherten Zuzahlungen anzudrohen“.

Gürpinar spielt damit darauf an, dass Warken für die Zukunft höhere Zuzahlungen bei Medikamenten angekündigt hat, weil diese seit langem unverändert seien. Tatsächlich gilt die Zuzahlung für Arznei seit 2004 und ist nicht ganz leicht zu durchschauen. Sie beträgt im Grundsatz zehn Prozent des Verkaufspreises, jedoch mindestens fünf Euro, aber höchstens zehn Euro pro Medikament. Kostet das Medikament weniger als fünf Euro, zahlt man den tatsächlichen Preis. Es gibt aber auch Arzneimittel, die so billig sind, dass sie von der Zuzahlung befreit sind. Die 430 Seiten lange Liste ist beim Spitzenverband der Krankenkassen abrufbar und wird alle zwei Wochen aktualisiert. Und wer als Versicherter eine finanzielle Belastungsgrenze erreicht – zwei Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens, bei chronisch Kranken ein Prozent –, kann sich von weiteren Zuzahlungen befreien lassen.

Der Gesundheitsökonom Wolfgang Greiner von der Uni Bielefeld hatte im Sommer eine Verdopplung der Zuzahlung gefordert. Mittlerweile wird die von Warken Ende September eingesetzte „Finanzkommission Gesundheit“, die Sparvorschläge erarbeiten soll, von Greiner geleitet.

„Ich hatte Angst vor einem Leben ohne Alkohol“

Sucht Die Journalistin Nathalie Stüben lebt seit 2016 nüchtern und spricht offen über ihre frühere Abhängigkeit.

Berlin. Nathalie Stüben war jahrelang alkoholabhängig. Per Podcast und Buch schildert sie heute ihren Weg aus der Sucht.

Sie sprechen offen über Ihre frühere Alkoholabhängigkeit. Was war der entscheidende Moment, der Sie dazu gebracht hat, mit dem Trinken aufzuhören?

Nathalie Stüben: Ich lebe seit Juli 2016 nüchtern – also seit über neun Jahren. Damals bin ich mal wieder neben einem nackten Fremden aufgewacht und konnte mich an nichts erinnern. An diesem Sommermorgen aber wusste ich: Heute ist es so weit, ich höre ganz auf zu trinken. Mir war zu diesem Zeitpunkt schon länger klar, dass ich ganz aufhören muss, aber ich habe noch Monate gebraucht, mich dazu durchzuringen. Ich hatte Angst vor einem Leben ohne Alkohol. Aber am 18. Juli 2016 war mein Schmerz größer als meine Sorge. Da wusste ich: Es ist so weit.

Wie schwer war es, sich vom Alkohol zu lösen – und was hat Ihnen in dieser Zeit am meisten geholfen? Wie hat sich Ihr Alltag seitdem verändert?

Es war tatsächlich leichter als ich dachte. Es fühlte sich an, als würde mir jemand einen tonnenschweren Rucksack von den Schultern nehmen. Ich merkte, wie klar ich im Kopf wurde. Wie diese undefinierbare Angst vorm Leben nachließ. Wie mein Selbstbewusstsein wieder wuchs, wie viel ich aus einem Tag machen konnte. Es war so schön, wieder zuverlässig und integer sein zu können, nichts mehr verstecken zu müssen. Natürlich gab es in den ersten Wochen und Monaten auch schwierige Momente, Angst und Unsicherheit. Aber die positiven Aspekte überwogen bei Weitem.

In Deutschland gilt Alkoholkonsum als normal, warum ist es aus Ihrer Sicht so schwer, auf Alkohol zu verzichten oder offen „Nein“ zu sagen?

Die meisten Erwachsenen hierzulande trinken Alkohol. Deutschland zählt zu den Hochkonsumländern dieser Welt. Hier herrscht ein gesellschaftliches Klima, in dem es normal ist, Alkohol zu konsumieren – und komisch, es nicht zu tun. In dem es als kultiviert gilt, regelmäßig zum Essen zu trinken und gleichzeitig als völlig ok, sich auf Feiern abzuschießen. Das sind gleich zwei problematische Konsummuster, die bei uns total akzeptiert sind.

Welche Reaktionen erleben Sie, wenn Sie offen über Ihre Abstinenz sprechen?

Manche beglückwünschen mich. Meistens diejenigen, die ebenfalls nicht trinken, oder Menschen, die ein unproblematisches Verhältnis zu Alkohol haben. Wenn jemand anfängt, seinen Konsum vor mir zu rechtfertigen, dann denke ich oft: Du erinnerst mich an mich früher.

Rebellion gegen das Rentenpaket

Union Die jüngeren Abgeordneten sind mit der Politik ihrer Koalition nicht glücklich. Nun formiert sich echter Widerstand.

Berlin. So richtig glücklich sind viele in der Unionsfraktion mit der Rentenpolitik von Schwarz-Rot nicht. Das gilt insbesondere für die jüngeren Abgeordneten. Jetzt droht die Junge Gruppe der Union, ein Zusammenschluss der Parlamentarier, die bei der Bundestagswahl 35 Jahre oder jünger waren, mit Widerstand gegen das Rentenpaket der Regierung. Immerhin 18 Abgeordnete sind sie – und weil Schwarz-Rot nur eine Mehrheit von zwölf Stimmen hat, wäre das ein echtes Problem.

Der Gesetzentwurf sei „in seiner jetzigen Ausgestaltung nicht zustimmungsfähig“, heißt es in einem Beschluss der Gruppe. Dabei geht es dem Unionsnachwuchs nicht um die Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, das Rentenniveau bis 2031 auf 48 Prozent zu stabilisieren. Dazu stehe man.

Problematisch ist für die jungen Unionsabgeordneten eine Formulierung des Gesetzesentwurfes von Bundessozialministerin Bärbel Bas (SPD), die auf die Zeit nach 2031 abzielt: Demnach wird das Rentenniveau aufgrund der geplanten Maßnahmen dauerhaft ein Prozent höher liegen, als es bisher nach geltendem Recht vorgesehen wäre. Dafür rechnet man mit Mehrkosten von mehr als 115 Milliarden Euro allein bis 2040. Aus Sicht der jungen Unionspolitiker würde das gegen das Versprechen aus des Koalitionsvertrags verstoßen, grundsätzlich am Nachhaltigkeitsfaktor festzuhalten. „Es ist nicht gerecht, die demografische Last allein der jungen Generation aufzubürden“, sagte der Vorsitzende der Jungen Gruppe, Pascal Reddig, dieser Zeitung. „Darum muss der Entwurf zum Rentenpaket im Bundestag noch angepasst werden.“

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) scheint zu Klarstellungen bereit. „Ich sehe den Punkt“, sagte er, fügte allerdings mit Blick auf die SPD hinzu: „Wir müssen uns in der Koalition darauf verständigen, wie wir damit umgehen.“ Auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann zeigte sich zu „parlamentarischen Beratungen“ bereit. Die Kritik der jungen Kollegen könne er „nachvollziehen“, diese müssten aber auch beachten: Die Union sei eine Volkspartei, die die Interessen „beider Generationen“ vertreten müsse.

Status verleiht Macht

Eigentlich glaubten die Sozialwissenschaftler Mitte des 20. Jahrhunderts, dass – jedenfalls in den prosperierenden Volkswirtschaften des Westens – Klassengesellschaften der Vergangenheit angehörten. Gesprochen wurde nur noch von „Schichten“ sowie einer weitgehenden Durchlässigkeit und Aufstiegsmobilität. Inzwischen häufen sich die Diagnosen einer wachsenden sozialen Ungleichheit, einer sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich. Es ist neuerdings wieder oft von „Klassen“ oder „Klassismus“ die Rede. Das wundert den Philosophen Hanno Sauer nicht, denn er erklärt Statusunterschiede und Prestigehierarchien zu unvermeidlichen Merkmalen menschlicher Gesellschaften. Diese Differenzen, so der Autor, funktionieren über die gesamte Bandbreite von Werten, Lebensstilen und Beziehungen – und sie sind nur schwer überwindbar. Dabei bleibt der Professor aus Utrecht nicht seiner eigenen Disziplin verhaftet, sondern weitet seinen Blick auf Befunde aus Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Genetik und Geschichte. Er erfasst damit viele Dimensionen von Ungleichheit, Solidarität und Diskriminierung. Sozialer Status, Prestige und Klassenzugehörigkeit verleihen ihren Inhabern Macht. Die gesellschaftliche Position von Menschen eröffnet und verschließt Chancen. Der Wettkampf um „Rang und Namen“ durchzieht die menschliche Evolutionsgeschichte, soziale Signale und Marker zeigen an, wo man steht.

Hanno Sauer: Klasse. Die Entstehung von Oben und Unten. Piper Verlag, München 2025. 370 Seiten. 26,00 Euro.

< VORHERIGE SEITE NÄCHSTE SEITE >