Stephan Grünewald Der „Psychologe der Nation“ entdeckt in seinem „Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ eine erstaunliche Krisenfestigkeit der Deutschen. Über den Umgang mit aktuellen Bedrohungen und die Frage, was Politik jetzt leisten muss.
Da draußen toben die Krisen, doch Stephan Grünewald scheint das erstmal nicht anzufechten. Vielleicht liegt es auch daran, dass der 64-Jährige ausgebildeter Therapeut ist, und Rheinländer noch dazu. Jedenfalls erlebt man den Gründer des Kölner Rheingold-Instituts beim Telefoninterview in gewohnt gelassener Stimmungslage. „Psychologe der Nation“ wird Grünewald auch gern genannt. Eine Fremdbezeichnung, mit der er gut leben kann, analysiert sein Institut doch in vielen Studien und tiefenpsychologischen Interviews quasi fortlaufend die Befindlichkeiten der Deutschen. Sein aktuelles Buch „Wir Krisenakrobaten. Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft“ soll bei aller Weltdramatik auch Mut machen.
Herr Grünewald, neulich hat mich auf der Straße eine Frau angeschrien, weil ich „zu laut“ an ihr vorbeigeradelt sei. Sie habe sich zu Tode erschreckt. Solche Begegnungen habe ich mittlerweile relativ häufig. Werden wir alle aggressiver oder ist das nur mein subjektives Empfinden?
Das ist alles andere als subjektiv. Wir erleben tatsächlich eine zunehmende Angespanntheit in der Gesellschaft. Meine zentrale Diagnose lautet: Es gibt eine gestaute Bewegungsenergie, weil wir das Gefühl haben, dass um uns herum vieles desolat ist. Und deshalb wird die Lunte kürzer. Wir können das auch empirisch quantifizieren. In einer unserer Studien haben 89 Prozent der Befragten bestätigt, die Aggressivität im Miteinander habe zugenommen. Ebenso viele haben das Gefühl, dass wir als Gesellschaft die Verbundenheit verloren haben und dabei sind, uns zu entzweien.
Was genau meinen Sie mit gestauter Bewegungsenergie?
Die Menschen haben das Gefühl, dass die Welt da draußen bedrohlich ist. Die ganzen Krisen – ob jetzt der Krieg in der Ukraine, der lauernde Klimawandel, die Migrationswelle oder die Corona-Zahlen, die jetzt wieder steigen – sie alle haben so eine Art Zombiequalität. Die kriegt man nicht beseitigt. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig und ziehen sich in ihr privates Schneckenhaus zurück, vor das sie einen Verdrängungsvorhang spannen. Das heißt, die Bewegungsenergie zirkuliert im Kleinen.
Der Antrieb richtet sich aufs Private …
Genau. Die Menschen schaffen sich Wohlfühloasen, verschönern ihre Wohnungen, optimieren sich durch Sport und Ernährung. Wir sehen da eine gesteigerte Selbstbezüglichkeit. Man fühlt sich seltsam abgekoppelt von den Zuständen da draußen und erlebt eher passiv, dass sich scheinbar alles verschlimmert. Gleichzeitig bekommt der Verdrängungsvorhang Löcher, weil die Misere auch immer mehr in unser Schneckenhaus dringt. Die Inflation, die wirtschaftliche Lage, die Unpünktlichkeit der Bahn, Schulen und Kitas, die nicht mehr funktionieren – das alles führt zum Eindruck: Das Land steckt fest – und ich gleich mit.
Sie beschreiben diesen Rückzug ins Private aus psychologischer Sicht ja nicht nur als schlecht, sondern sprechen von Krisenakrobatik. Nach dem Motto: Konzentrier dich auf das, was du beeinflussen kannst!
Absolut. Es ist enorm wichtig, wenn nicht sogar überlebenswichtig, dass man sich selbst stabilisiert, dass man sich einen Raum schafft, in dem man Selbstwirksamkeit erlebt und sich geborgen fühlt. Gleichzeitig funktioniert die Gesellschaft nicht, wenn alle in ihrem Schneckenhaus sitzen. Deshalb stellt sich die Frage: Wie kriegen wir unsere Bewegungsenergie ins Große übersetzt? Im Moment gelingt das jedenfalls nicht.
Wann ist es zuletzt gelungen?
Beispielsweise in der Energiekrise vor drei Jahren. Da wurde die gestaute Bewegungsenergie kanalisiert, weil alle durch das Bedrohungsszenario, einen kalten Winter zu erleben, ein sinnvolles gemeinsames Ziel hatten. Jeder hatte die Selbstwirksamkeit, mitzumachen. Jeder hatte den starken Arm, um am Thermostat zu drehen. Und alle hatten den Eindruck: Ich mache das jetzt nicht alleine. Die Nachbarn und die Industrie, die sparen auch Energie. Und die Politik, die kümmert sich um Gaslieferungen aus anderen Ländern oder baut in Rekordzeit LNG-Terminals. Das vorherrschende Gefühl war: Alle packen an, und es bewegt sich was im Land.
Woher rührt die Verbundenheitskrise, die Sie beschreiben?
Die Leute ziehen sich nicht nur zurück in ihre Wohlfühloase, sondern sie bilden auch zunehmend eine Art Wagenburgmentalität im Sozialen aus. Die Menschen beschreiben uns, dass sie anfangen, all diejenigen, die anders denken, die sie anstrengend finden, auszusortieren. Die werden nicht mehr eingeladen, mit denen ist man nicht mehr im Gespräch. Unterschiedliche Perspektiven werden nicht mehr ausbuchstabiert, keine Kompromisse mehr erstritten. Eine produktive Streitkultur, Begegnungsräume für Diskussionen fehlen. Dass viele Menschen sehr viel mehr Zeit im Homeoffice verbringen, verstärkt die Entwicklung. Da sind sie in ihrer wohltemperierten Blase, da sitzen sie nicht in der Bahn oder im Büro und sind mit anderen Leuten konfrontiert. Wenn man aber zusehends im Wohltemperierten bleibt, dann entfremdet man sich von der Welt.
Welche Rolle spielt das Internet dabei?
In den sozialen Medien fehlt die persönliche Verbindlichkeit. Wenn mir jemand in Fleisch und Blut gegenübersitzt, dann merke ich, der hat zwar eine andere Meinung, aber er ist mir trotzdem wohlgesinnt. Im Internet stoße ich auf andere Meinungen, treffe auf Leute, die die Welt komplett anders sehen. Das ärgert mich dann vielleicht und führt zu einer Reaktion, die ich Affektmasturbation nenne. Man haut in einem wütenden Schwall seinen Ärger raus, verschafft sich eine kurze Befriedigung. Das führt aber nicht zu Versöhnung, sondern hinterlässt bei dem anderen wieder Ärger. Gleichzeitig sind viele Leute immer nur einen Klick davon entfernt, ihre eigene Position bestätigt zu bekommen. Wir haben gerade eine Studie mit jungen Leuten gemacht, die sagen: Niemand versteht und liebt mich so wie der Algorithmus.
Die Meinungsvielfalt ist heutzutage wahrscheinlich so groß wie nie zuvor, aber wollen die Menschen so viel Freiheit überhaupt?
Freiheit hat ihren Preis, und den muss man bezahlen wollen. Sie ist unfassbar anstrengend, weil man viel mehr aushandeln und vermitteln muss. Die Chance besteht jedoch darin, dass ich mein Leben nach meiner persönlichen Fasson leben kann.
Für den Verlust unserer Streitkultur wird häufig Angela Merkel und in der Folge auch die Ampel-Regierung verantwortlich gemacht. Wurde früher besser gestritten?
Früher gab es zumindest klare Lager, die aber immer im Gespräch waren. Unter Merkel ist das Bild der überparteilichen Mutter entstanden, die uns gut regiert. Über wichtige Fragen wie die Abschaffung des Wehrdienstes oder der Atomenergie müssen wir jetzt nicht streiten, das wird einfach vollzogen. Da haben wir das Streiten ein wenig verlernt. In der Ampel-Regierung wurde dann zwar viel gestritten, aber das war eher zänkisch. Und Zank ist anders als Streit destruktiv, er führt nicht zum Perspektivwechsel, es geht nur darum, dem anderen zu schaden, Bitternis abzusondern und sein Mütchen zu kühlen.
Was ist also Ihr Appell an die Politik?
In der Koalition eine richtungsgebende Geschlossenheit zu entwickeln. Wenn das nicht gelingt, verstärkt sich das Gefühl des Feststeckens weiter, und die AfD reibt sich hinter der Brandmauer die Hände. Die Menschen müssen ein Gefühl dafür kriegen, wie wir aus diesen gestauten Verhältnissen wieder rauskommen. Das fängt damit an, dass die Politik Probleme klar benennt und gleichzeitig bereit ist, Dinge durchzuziehen. Auch wenn es den Wählerinnen und Wählern im ersten Moment vielleicht weh tut.
Hilfspakete wie den „Doppelwumms“ oder das Finanzpaket für Verteidigung und Infrastruktur kritisieren Sie insofern, weil sie die Not vom Bürger fernhalten. Der Staat richtet es mit Geld …
Es gibt den Begriff der Notwendigkeit. Das bedeutet, eine Wendigkeit erfolgt erst aus der Not. Und ich bin ja auch ausgebildeter Therapeut und weiß: Jemand, der keinen Leidensdruck verspürt und keine Krisenerfahrungen gemacht hat, wird sein Leben nicht ändern.
Trauen wir uns Krise nicht mehr zu?
Die meisten Menschen unterschätzen ihr Könnens-Potenzial. Dabei haben sie in der Vergangenheit Krisen erlebt – und gemeistert. Dafür ist nicht nur die Energiekrise Beleg, sondern zum Beispiel auch die Flutkatastrophen, wo viele Menschen angepackt haben und gemeinschaftlich über sich hinausgewachsen sind. Die Menschen spüren, dass der Wandel kommt, auch wenn viele noch auf Halten spielen. Sie haben eine große Sehnsucht nach Verbundenheit. Und die ist am Ende vielleicht sogar größer als der Wunsch nach materiellem Reichtum. Das kann die Politik nutzen und die Kräfte aktivieren. Wir brauchen einen Weckruf.
Sie beschreiben die aktuelle Situation vieler Menschen als babylonische Verwirrung, eine Konfusion in allen Lebensbereichen. Geschlechterbilder werden über Bord geworfen, was ich esse, wie ich mich fortbewege, wie ich mein Kind erziehe – bei all diesen Themen gibt es keinen Standard mehr. Das kann auch spalten. Wie damit umgehen?
Die babylonische Verwirrung im biblischen Gleichnis beschreibt ja, dass es auch keine gemeinsame Sprache mehr gibt. Man versteht sich nicht mehr. Um einen Ausweg aufzuzeigen, erzähle ich im Buch das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Alle Tiere in der Geschichte sind vom Tod bedroht und deshalb bereit zur Veränderung. Die Idee ist: Wir gehen nach Bremen und werden Stadtmusikanten. Dass sie nie in Bremen ankommen, ist am Ende gar nicht wichtig. Wichtiger ist der Aufbruch. Ein zweites Momentum ist, dass die Tiere ganz ehrlich mit ihren Schwächen umgehen. Der Hund kann nicht mehr richtig jagen, der Esel die Last nicht mehr schleppen, die Katze die Mäuse nicht mehr fangen, der Hahn nicht mehr vernünftig krähen.
Was folgt daraus?
Das macht sie erst gemeinschaftsfähig. Eine ganz wichtige Botschaft des Märchens ist: Wenn wir bereit sind, uns zu verbinden – bei allen Schwächen und Unterschieden –, dann entsteht eine neue Form der Aufgehobenheit. Die vier Tiere bauen aufeinander, bilden gemeinsam eine neue Gestalt und vertreiben so die Räuberbande. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Mitglieder.
Zugespitzt gefragt: Wie kommt jetzt der „alte weiße Mann“ mit der „radikalen Feministin“ wieder an einen Tisch?
Wir brauchen gesellschaftlich viel mehr Begegnungsräume, wo Leute unterschiedlicher Milieus ins Gespräch kommen können. Das fängt schon in der Schule an. Gerade durch die Isolationsphasen in der Coronazeit ist es wichtig, Klassenfahrten zu machen, Diskussionsforen mit jungen Leuten zu veranstalten, damit die auch wieder ein Gespür für ihre sozialen Fähigkeiten kriegen. Viele Jugendliche berichten uns, dass sie Angst haben, ihre Meinung frei zu äußern, aus der Sorge heraus, anzuecken. Die müssen die Erfahrung machen, auch mal einen raushauen zu dürfen, ohne dafür gleich sozial gesteinigt zu werden. Und was den alten Mann und die radikale Feministin angeht: Jeder sollte eine Ahnung davon haben, dass die eigene Meinung nicht das Absolute sein muss. Dass man selber auch irren kann, dass man halt nicht perfekt ist. Wenn ich hundertprozentig davon überzeugt bin, dass ich Recht habe, dann brauche ich kein Gespräch mehr führen.