„Das ist eine monströse Tat“
Landgericht Zwischen den Plädoyers liegen Welten: Der Staatsanwalt fordert 12 Jahre Freiheitsstrafe, die Verteidigung Freispruch.
Reutlingen. „Falls sich die Tatvorwürfe als zutreffend erweisen“, so der psychiatrische Gutachter Professor Thomas Ethofer vorsichtig, gebe es ausreichend spezifische Kriterien für die Diagnose einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung. Er sei sich aber nicht sicher, weil er vom Angeklagten, den er nur einmal zusammen mit einem Übersetzer im Gefängnis gesprochen hatte, zu wenig erfahren habe. Über die ihm vorgeworfenen Taten habe der Mann keinerlei Angaben gemacht.
Der 30-jährige konsumiere regelmäßig Alkohol und Cannabis, eine verminderte Schuldfähigkeit konnte der Sachverständige aber nicht erkennen; es liege auch keine psychiatrische Erkrankung vor. Sollten die Tatvorwürfe zutreffend sein, wären sie ein herausragendes „Beispiel für Herzlosigkeit“. Dass der Angeklagte den Schwerverletzten vom Dunklen ins Helle getragen habe, um ihn dort in aller Öffentlichkeit zu vergewaltigen, könne bedeuten, dass er ihn zusätzlich demütigen wollte. Möglich sei aber auch ein spontaner Entschluss zur Tat, „weil ihn das wehrlose Opfer erregte“.
Hang zur Kriminalität?
Dass der Angeklagte schon einmal aus nichtigem Grund auf einen Menschen eingestochen habe, spreche dafür, dass er auch künftig schwere Straftaten begehen könnte. Von einem Hang zur Kriminalität könne er aber anhand der wenigen Hinweise „nicht sicher ausgehen“. Diese Neigung könnte die strafrechtliche Konsequenz einer Sicherungsverwahrung haben.
Eine Konsequenz, die Staatsanwalt Florian Fauser, wie er in seinem einstündigen Plädoyer ausführte, für dringend geboten hält. Fauser sah die Tatvorwürfe – den versuchten Totschlag und die Vergewaltigung – in allen Punkten bestätigt. Dass der Geschädigte vor Gericht keine Angaben zu der Sexualstraftat gemacht habe, erkläre sich aus dessen kulturellem Hintergrund. Homosexualität sei in seinem Heimatland Afghanistan mit der Todesstrafe belegt. Dass da nichts gewesen sei, dem widersprächen die Zeugen, die übereinstimmend von einem nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr berichtet hatten und die Spermaspuren des Angeklagten, die man bei dem Opfer sichergestellt hatte.
Auch daran, dass der Geschädigte vom Angeklagten aus dem Fenster gestoßen worden sei, hegt der Staatsanwalt keinen Zweifel. Erst nach einem Zwischenruf des Angeklagten habe der Zeuge begonnen, seine Aussage diesbezüglich zu relativieren. Dabei habe es sich eindeutig um eine Einschüchterung gehandelt: „Der Mann hat Angst bekommen.“
Tod in Kauf genommen
Der Angeklagte habe den Tod seines Opfers zumindest billigend in Kauf genommen, Reue habe er keine gezeigt. Die Empathielosigkeit bei der Vergewaltigung eines „tödlich Verletzten“ lasse einen sprachlos zurück: „Es ist eine monströse Tat.“ Der Angeklagte sei eine „tickende Zeitbombe“ und für die Allgemeinheit gefährlich, zeigte sich der Staatsanwalt überzeugt. Er beantragte deshalb eine Gesamtstrafe von 12 Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherheitsverwahrung.
„Ich sehe das Ganze komplett anders“, begann Rechtsanwältin Maria Tunc ihre wesentlich kürzeren Ausführungen. Zeugen des Sturzes gebe es nicht. Der Ermittler, der ausgesagt habe, der Geschädigte sei von ihrem Mandanten gestoßen worden, „ist nur ein Zeuge vom Hörensagen“. Der Fenstersturz sei eine Lüge. Der Zeuge habe sich vor Gericht mehrfach widersprochen und am Ende eingeräumt, dass er vielleicht aus dem Fenster gefallen sei. Weder vor Gericht noch im Gefängnis habe ihr Mandant den Mann beeinflussen können: „Er wurde nicht bedroht.“
Vielleicht ein Lustschrei?
Danach kam sie zu der „mutmaßlichen“ Vergewaltigung. „Es muss einen Analverkehr gegeben haben – entweder unten oder im Zimmer.“ Ob der Verkehr einvernehmlich gewesen sei oder nicht, das habe man rechtsmedizinisch nicht klären können. „Ein Stöhnen aus Lust oder aus Schmerz“, das hätten die Zeugen nicht unterscheiden können: „Es kann auch ein Lustschrei gewesen sein.“
Im übrigen wunderte sich die Verteidigerin, dass der Sachverständige dem Einfluss, den die Drogen und der Alkohol auf ihren Mandanten haben, keine Bedeutung zugemessen hatte. Sie beantragte Freispruch für ihren Mandanten. Das Urteil am Landgericht wird am kommenden Montag verkündet.
Info Vorsitzender Richter am Schwurgericht: Armin Ernst, Beisitzer: Julia Merkle, Benjamin Meyer-Kuschmierz, Staatsanwalt: Dr. Florian Fauser, Schöffen: Cigdem Schaich, Georg Krug, Verteidigung: Maria Tunc, Rechtsmedizin: Dr. Melanie Hohner, Psychiatrischer Sachverständiger: Prof. Thomas Ethofer, Dolmetscher: Qadir Fathai.