Lyriksommer Wenn Grottenolme, Karotten und Monster die Bühne erobern: Jan Wagner und Nora Gomringer lesen im Kunstverein.
Es ist schon lange kein Sommer mehr, nass, kalt und dunkel ist es geworden. Ein „Thermoskannen-Tag“, wie der Büchnerpreisträger Jan Wagner sagen würde. Er ist einer der beiden Poeten, der bei einem der letzten Abende des Ulmer Lyriksommers liest. Dieter Kraus am Saxophon und Uwe Lange an der Gitarre läuten mal beschwingt, mal melancholisch die Veranstaltung ein.
Nora Gomringer ist – ebenso wie Jan Wagner – der Einladung des Vereins „Dichter dran“ in die Räume des Ulmer Kunstvereins gefolgt. Zwei der bedeutendsten Stimmen der gegenwärtigen Literatur- und Lyrikszene, beide vielfach ausgezeichnet, stehen an diesem Abend nacheinander auf der Bühne. Die hölzernen Klappstühle sind bis auf den letzten Platz besetzt. An den Wänden hängen die großformatigen Malereien von Ellen Akimoto. Jan Wagner beginnt zu lesen: von Pestwurz, Schleierkraut und Giersch.
Schon in seinem ersten Gedicht, „Das königliche Botanik-Bataillon erarbeitet seine Strategie“, steckt das, was Wagners Texte kennzeichnet: der Blick fürs Besondere im Banalen, die Liebe zum Absurden. In der Folge reimt Wagner Backofen auf Mangroven, bringt Sprache nicht nur zum Klingen, sondern schafft Sinn und Witz. Nicht selten zündet die Pointe erst wenige Sekunden nach Ende seines Vortrags.
Und während Wagner schon beim nächsten Gemüsegedicht ist, schmunzelt man noch über die letzten Verse des vorherigen. Wortspiel und Wortwitz wohnen seinen Texten inne – und das, ohne albern zu sein. Wagners Begeisterung für seine Gegenstände überträgt sich. Hört man ihm zu, wie er von Grottenolmen spricht, scheint es völlig offensichtlich, dass die Geschöpfe „zarter als die Arbeiten von Glasbläsern“ sind. Und wie konnte man das nicht sehen, dass „Karotten niemals plump und niemals prahlerisch sind wie Kürbisse“?
Was Nora Gomringer in der zweiten Hälfte des Leseabends auf die Bühne bringt, ist weit mehr als nur Gedichtelesen. Obschon das bei ihren geistreichen und kurzweiligen Texten völlig ausreichen würde. Wenn sie ihre Gedichte vorträgt, variiert ihre Tonlage, sie schiebt Gesangsmomente ein, spricht auf Deutsch und Englisch.
Gomringer hat nicht nur geschriebenes Wort im Gepäck, sondern auch Grafiken von Reimar Limmer. Die Zeit, bis der störrische Beamer im Kunstverein seinen Dienst vollbringt, scheint Gomringer beinah zu genießen, sie interagiert locker und gekonnt mit dem Publikum. Als das Gerät endlich zu surren beginnt, wirft sie Limmers Illustrationen an die Wand: die Verbildlichung ihrer Texte über Monster, Krankheit, Mode und dem Habituellen.
Es ist eine Reihe an Recherchen, gespickt mit klugen Gedanken und Fragen – etwa: Wie riechen Alte in anderen Kulturen? In ihrer nach Arnika.
Die Monster dieser Lyrikreihe sind Figuren aus der europäische Kultur- und Literaturgeschichte wie der Golem oder E.T.A. Hoffmanns Olympia. Wenn Gomringer über die Mode und das Habituelle schreibt, offenbart sie gewaltvolle Momente modischer Schönheitsvorstellungen, liest von gebrochenen Füßen und verdichtet das zu dem Satz: „Die schöne Frau ist die verlangsamte.“
Nora Gomringer sagt, für sie sei es ein großes Glück, dass man ihr und Jan Wagner zuhöre. Und für alle Anwesenden ist es indes ein noch größeres Glück, dass Nora Gomringer und Jan Wagner an diesem Abend in Ulm vorlesen.