Seelsorge hinter Gittern
Porträt Pfarrer Martin Breitling hat seine Gemeinde gewechselt: In der Justizvollzugsanstalt Ulm begleitet er Männer, die ihre Freiheitsstrafe absitzen.
Wenn der evangelische Pfarrer Martin Breitling über seinen neuen Beruf spricht, entsteht der Eindruck, er hätte lediglich seine Kirchengemeinde gewechselt – von der kleinen Gemeinde Kohlstetten auf der Schwäbischen Alb zu einer mit etwa 300 Mitgliedern. Bei den Gemeindemitgliedern handelt es sich um Häftlinge der Justizvollzugsanstalt (JVA) Ulm. Seit Juni dieses Jahres ist Breitling dort Gefängnisseelsorger; nach 25 Jahren als Jugendreferent und Gemeindepfarrer.
Jeden Mittwochabend trifft sich die Gemeinde zum Gruppengespräch und sonntags zum Gottesdienst. Der wird abwechselnd von Breitling und seinem katholischen Kollegen, Marcel Holzbauer, geleitet. „Einmal lud mich ein Insasse dazu ein, beim Gottesdienst meines Kollegen teilzunehmen. Hier sei schließlich jeder willkommen“, berichtet der 54-jährige Schwabe. Das zeigte ihm, wie inklusiv seine neue Gemeinde ist: Mit einem evangelischen und einem katholischen Pfarrer zugleich, sei sie anderen zudem einen Schritt voraus.
Der Elefant im Raum
Die begangene Tat sei im Gefängnis zwar immer der sprichwörtliche Elefant im Raum, eben als Grund, weshalb jemand hier ist, erklärt er. Im Seelsorgegespräch mit Breitling gehe es aber nie darum. Die Gründe für die Haftstrafe kennt er meistens ohnehin nicht: „Ohne diesen zusätzlichen Filter ist es einfacher im Gespräch“, so der systemische Seelsorger.
Doch er weiß, dass einige aufgrund von Suchtproblemen und einhergehender Beschaffungskriminalität in der JVA sind. Bei seiner Arbeit in der Untersuchungshaft am Frauengraben sei es etwas anders, erklärt Breitling: „Hier lese ich manchmal die Anklage, um zu wissen, was mich erwartet.“ Die Ungewissheit, wie der Gerichtsprozess ausgehen werde, treibe die Männer dort um.
Ihm ist es wichtig, den Menschen abseits seiner Taten wahrzunehmen: „In den Gesprächen geht es um menschliche Sorgen. Wie ist der Zustand, wenn ich herauskomme? Hält meine Familie bis dahin zu mir? Und kann ich es ihnen verübeln, wenn nicht? Außerdem treiben sie Schuldgefühle um, dass sie ihre Partnerinnen in diese schwierige Situation bringen, etwa in eine finanzielle Notlage.“
Breitling verzichtet auf Ratschläge. Vielmehr versteht er seine Aufgabe darin, zuzuhören und die richtigen Fragen zu stellen. Also jene, die zum Nachdenken anstoßen. Ihn beeindruckt es, wenn die Häftlinge ihrer Situation mit Humor begegnen können. Auch der Theologe nutzt den als Werkzeug: „Humor schafft Distanz und kann dabei helfen, eine andere Perspektive einzunehmen.“
Ein wichtiges Thema der wöchentlichen Gesprächsrunden ist die Frage „wann gehe ich?“ und die damit verbundenen Bedenken: „Jeder fiebert darauf hin. Aber ist es dann so weit, gibt es einen gewissen Abschiedsschmerz“, so Breitling. Wenn es die Männer wollen, entsendet der Gefängnispfarrer sie mit einem Reisesegen in ihren neuen Lebensabschnitt. Er bleibe jedoch hier im Gefängnis – bis zum Ruhestand könne er sich das gut vorstellen, sagt der Vater, der mit seiner Familie im Pfarrhaus in Kohlstetten wohnt.
Er könne nur schwer ausblenden, dass er im Gefängnis ist. Vor jeder verschlossenen Türe werde ihm das bewusst. Anders als im Gemeindepfarramt, wo eine Aufgabe die andere jagt, gäbe es hier kaum Ablenkungen: „Hier kann ich schauen, was auf mich zukommt und mich darauf einlassen.“
Den Fokus ganz auf den Moment und den Insassen legen zu können, sieht er als seine Stärke. Denn auch danach gelinge es ihm, dem Gespräch nicht nachzuhängen: „Man darf nicht so lang dran rumdenken“, sagt er, „ich liege nachts nicht wach und zerbrech mir den Kopf“. So wirke sein Heimweg wie eine Schwelle, die Distanz zum Erlebten schafft: „Wenn ich im Zug sitze und Italienisch auf meinem Handy lerne, bin ich mit dem Kopf schon woanders.“
Ausgleich zur Arbeit findet er beim Spazieren mit seinem Schnauzer Kali oder in den Bergen: „Ich bin Alpinist bis in die Haarspitzen“, sagt er und zählt auf: Berg- und Skitouren, Mountainbiken, Klettern. Um den Bergen nahe zu sein, zog es ihn während seines Studiums in Tübingen für ein Erasmusjahr nach Bern.
Nach wie vor sind die Sonntagsgottesdienste die Höhepunkte des Pfarrers. Das gilt auch für die Insassen, vor allem für jene im geschlossenen Vollzug. „Diese halbe Stunde bedeutet eine echte Abwechslung zum Alltag in der Zelle. Die Insassen genießen die Stille beim Gebet, das Ritual und die Musik.“ Für die Gemeindemitglieder im offenen Vollzug gibt es im Anschluss noch einen Austausch bei Kaffee und Nusszopf. „Kein Mohn“, erklärt Breitling. Der könne den Drogentest beeinflussen.
Ich liege nachts nicht wach und zerbrech mir den Kopf. Martin Breitling Gefängnispfarrer