„Ich glaube, dass die 1930er Jahre sehr lehrreich sind“

Interview Der Historiker Karl Schlögel erhält am Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Europa müsse lernen, dass es auf sich selbst gestellt ist, sagt er.

Am Sonntag erhält der Historiker Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Als „Wissenschaftler und Flaneur, als Archäologe der Moderne, als Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen“ habe Schlögel schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Städte und Landschaften Mittel- und Osteuropas erkundet, begründete die Jury ihre Wahl. Nach der Annexion der Krim durch Russland 2014 habe der Historiker den Blick auf die Ukraine geschärft und sich aufrichtig mit den blinden Flecken der deutschen Wahrnehmung auseinandergesetzt. Im Interview warnt Schlögel vor der Taktik Wladimir Puitns und kritisiert die US-Diplomatie.

Herr Schlögel, Sie arbeiten an einem neuen Buch. Worum wird es dabei gehen?

Es geht um eine Geschichte Russlands, erzählt entlang des Flusses Wolga. Das dauert aber noch eine Weile.

Besonders Europa blickt gerade mit großer Sorge auf Russland. Mitunter heißt es, man müsse Präsident Wladimir Putin klare Grenzen aufzeigen und nicht die Fehler von 1938 wiederholen, als man Adolf Hitler zu lange gewähren ließ. Was sagt der Friedenspreisträger dazu?

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis man die Eskalationsstrategie Putins überhaupt ernstgenommen hat. Er hat ja schon 2014 die Krim besetzt. Das war die erste gewaltsame Grenzverschiebung in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und es hat lange gedauert, bis man sich bewusst wurde, dass Kiew, eine große europäische Hauptstadt, Tag und Nacht bombardiert wird. Wie würden wir wohl reagieren, wenn Bomben auf Marseille, Triest oder Barcelona fielen?

Sie befürworten also einen scharfen Kurs gegenüber Putin und gehen davon aus, dass diese Konfrontation noch länger dauern wird.

Es ist kein weiterer Beweis notwendig, dass es Putin ernst ist, den Krieg fortzuführen. Und dass er diplomatische Initiativen nur nutzt, um Zeit zu gewinnen. Während er vom US-Präsidenten in Alaska auf dem roten Teppich empfangen wurde, befahl er die schwersten Bombenangriffe auf Kiew seit Kriegsbeginn.

Befinden wir uns in einem neuen Kalten Krieg?

Man könnte das meinen. Aber ich halte diese Terminologie für nicht ganz zutreffend. Wir haben es mit einer ganz neuen Konstellation zu tun, außerdem mit einer neuen Form von Kriegführung. Die Lage ist viel komplizierter und unübersichtlicher geworden. Es gibt nicht mehr nur die zwei Supermächte USA und Russland, sondern mehrere Kraftzentren, die die Weltpolitik bestimmen. In den USA haben wir es mit politischen Eliten zu tun, deren Entscheidungen außerordentlich schwierig nachzuvollziehen sind. Man ist beispielsweise erstaunt über die Unprofessionalität der derzeitigen US-Diplomatie. Da fährt etwa Donald Trumps Sondergesandter Steve Witkoff nach Moskau, führt lange Gespräche, lässt unglaubliche Lobeshymnen auf Putin los und weiß nicht einmal, welche Territorien von Russland besetzt sind.

Was folgt für Sie daraus?

Da die Trump-Regierung mit ihrem wohl gewollt unberechenbaren Kurs weiter Unsicherheit sät, müssen die Europäer endlich lernen, dass sie auf sich selbst gestellt sind. Das gilt auch für die Ukraine.

Putin stellt immer wieder Rückbezüge zum Zweiten Weltkrieg und zum Nationalsozialismus her. Was hat das zu bedeuten?

Er versucht, den Angriffskrieg, den er gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, als Verteidigungskrieg gegen den Faschismus darzustellen, als Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Eine absurde Verdrehung der Wirklichkeit.

Putin instrumentalisiert Geschichte. Kann umgekehrt Geschichte dabei helfen, die Gegenwart besser zu verstehen?

Ich glaube, dass die 1930er Jahre außerordentlich lehrreich sind. Nicht in dem Sinne, dass man daraus ein Rezept ableiten kann – Geschichte wiederholt sich nicht. Aber ich glaube, wir sind gut beraten, uns noch einmal in diese Epoche zu vertiefen, weil wir uns in einer in Vielem vergleichbaren Lage befinden, nicht nur im militärischen Sinn. Die Münchner Konferenz 1938 hat nicht den Frieden gerettet, sondern Hitler den Weg in den Krieg geebnet. Niemand war 1939 darauf vorbereitet, dass es zu einem Pakt zwischen zwei verfeindeten Mächten kommen würde: Stalins Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland.

In den 1970er und 1980er Jahren gab es in Deutschland eine starke und einflussreiche Friedensbewegung. Heute werden jene, die nach Frieden rufen, eher belächelt. Warum ist das so?

Friedensbewegung heißt doch, den Anfängen zu wehren, den Aggressor zurückzuweisen und den Angegriffenen beizustehen. Im Osten Europas ist Russland der Angreifer. Bei allem guten Willen und bei allen guten Absichten muss eine Friedensbewegung, die diesen Namen verdient, dieser Wirklichkeit Rechnung tragen. Vielleicht hat man nach 70, 80 Jahren Friedenszeit den Sinn dafür verloren, wovon die Gefahr ausgeht und wofür man gerüstet sein muss.

Trauer um den Soul-Musiker d’Angelo

Nachruf Der Sänger erlag mit 51 Jahren einem Krebsleiden. Mit dem Album „Voodoo“ hatte er den Durchbruch geschafft.

New York. Der US-Sänger D‘Angelo ist tot. Der Soul-Musiker, der vor allem mit dem Song „Untitled (How Does It Feel)“ weltberühmt wurde, sei im Alter von 51 Jahren an Krebs gestorben, berichteten US-Medien unter Berufung auf seine Familie.

„Der leuchtende Stern unserer Familie hat sein Licht für uns in diesem Leben gedimmt“, hieß es in einer Mitteilung der Familie, aus der zahlreiche US-Medien zitierten. D‘Angelo habe zuvor „lange und mutig“ gegen den Krebs gekämpft. „Wir bleiben ewig dankbar für das Vermächtnis von außergewöhnlich bewegender Musik, das er hinterlässt.“

Kollegen und Fans reagierten bestürzt auf den Tod des vierfachen Grammy-Preisträgers. Die US-Rapperin Doja Cat würdigte den Sänger als „eine wahre Stimme von Soul und Inspiration für viele brillante Künstler unserer Generation und für zukünftige Generationen“.

An seinem neunten Geburtstag im Jahr 2000 habe er sich das Album „Voodoo“ gekauft, schrieb der US-Rapper Tyler, the Creator (34) auf Instagram. Er schätze sich glücklich, die Musik von D‘Angelo erlebt zu haben. Sie habe ihn geprägt.

Der US-Rocker Flea von der Rockband Red Hot Chili Peppers pries die „ungewöhnliche und schöne Stimme“ von D‘Angelo. „Wir werden dir ewig zuhören und immer gerührt sein“, schrieb der Bassist.

Auch der Oscar-Preisträger Jamie Foxx („Ray“) zollte in einem Instagram-Posting Tribut. Er habe vor der Stimme, dem Talent und der Ausstrahlung des Sängers reine Ehrfurcht gehabt, schrieb der Musiker und Schauspieler.

Der 1974 im US-Bundesstaat Virginia als Michael Archer geborene D’Angelo hat schon als Kind Musik gemacht. 1995 erschien sein Debüt-Album „Brown Sugar“, das gleich für mehrere Grammys nominiert wurde.

Im Jahr 2000 schaffte er mit dem Album „Voodoo“, auf dem auch der Superhit „Untitled (How Does It Feel)“ war, den weltweiten Durchbruch. 2014 folgte „Black Messiah“.

D‘Angelo hatte sich zwischendurch immer wieder aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und mit Drogen- und Alkoholsucht gekämpft.

Nico Santos in zwei Universen

Nico Santos gehört seit Jahren zu den erfolgreichsten Popstars des Landes. Mit seinem neuen Album „Santos“, das am Freitag erscheint, begibt er sich zurück auf vertrautes, aber zugleich völlig neues Terrain. Deutsch statt Englisch, R&B und Hip-Hop statt Radio-Pop. Doch fremd sind die Album-Klänge für den 32-Jährigen eigentlich nicht.

Nico Wellenbrink, so sein bürgerlicher Name, entdeckte schon in jungen Jahren Hip-Hopper wie Sido und Bushido für sich – Künstler, die ihn Jahre später prägen sollten. Nach der Schulzeit arbeitete er in Robinson-Clubs als Animateur und Sänger. Dort wird er entdeckt. Er schreibt deutschsprachige Lieder für Helene Fischer und Bushido, produziert Filmmusik. 2018 will Santos es auch solo wissen, allerdings mit englischsprachigen Popsongs wie „Rooftop“ und „Safe“.

Doch die Leidenschaft für deutschen Hip-Hop bleibt. Santos singt für Rapper wie Shindy, Prinz Pi und Sido Refrains ein. Das wohl persönlichste der zwölf Lieder auf seinem ersten Solo-Deutschalbum, das er unter seinem Künstler-Nachnamen Santos veröffentlicht, ist „Pinienbäume“ – mit vielen Erinnerungen an das Aufwachsen auf der spanischen Ferieninsel Mallorca. Er habe selten so viele Reaktionen von Freunden und Familien auf einen Song bekommen, sagt der Musiker.

Das Stück verbindet spanische Gitarren, Latin-Vibes, Reggaeton-Einflüsse und R&B. Der Großteil der zwölf Songs auf „Santos“ sind Duette. Santos singt mal mit rauer, mal mit hoher Stimme, andere übernehmen den Rap-Part: Jazeek, Dadaan oder Shirin David. Aber auch Songs mit alten Bekannten sind zu hören, etwa mit Sido („Geschlossene Augen“, „Leere Hände“) und SDP („99 Problems“). Manche wurden schon vor Jahren als Singles veröffentlicht.

Mit seiner Albumpremiere auf Deutsch verbindet Nico Santos nun zwei Welten, die ihn musikalisch schon in seiner ganzen Karriere begleiten – und die beide auf dem Musikmarkt ihre Berechtigung haben. Im Radio dominiert weiterhin der englische Pop, auf den Streaming-Portalen dagegen deutschsprachiger Rap und R&B. Santos bewegt sich bewusst in beiden Universen. Im kommenden Herbst geht es auf Arena-Tour: „Ich habe lustige Ideen, wie ich diese Mischung aus Englisch und Deutsch umsetzen will“, sagt der Sänger.

Angehört Der Musiker wagt mit dem Album „Santos“ einen Wechsel: Deutsch statt Englisch, Hip-Hop statt Pop.

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