Roman

  • Cover Klett-Cotta, Stuttgart

Schon baden rote Rauchbomben die ganze Altstadt in Licht. Unten schöpft eine Frau mit hohlen Händen aus dem Loch, das die Feuerwehr in die Eisdecke auf dem Neptunbrunnen geschlagen hat. Ist das Uta? Die Raben haben begonnen, um den Turm zu kreisen. Zerhackte Stimmen aus dem Funkgerät.

„Sie wollen Zahlen!“, übersetzt Roswitha.

„Zahlen?“

„Wie viele Flugzeuge!“

Ursel hat keinen Überblick. In der Luft stehen neue Rauchbomben. Sie flackern. Sie flackern nicht. Das sind die Raben. Sie haben begonnen, um den Turm zu kreisen.

„Grüne diesmal“, ruft Ursel ins Funkgerät. „Vom Bahnhof bis zum Wolfsberg, vom Sportfeld bis zur Erlöserkirche!“

„Wie viele?“, wiederholt Roswitha.

Seitlich kommt ein zweimotoriges Flugzeug ins Sichtfeld. Ursel hat Mühe, ihm zu folgen. Im Tiefflug dröhnt es über das Fußballfeld hinweg, geht bei den Auen in eine enge Kurve. Als der Flakscheinwerfer die Tragfläche streift, kann Ursel die kreisrunde Kokarde der Briten darauf erkennen.

Über dem Sportfeld jetzt andere Rauchbomben.

„Sind das unsere?“, fragt Roswitha.

„Gelb! Grün!“

Vom Himmel herab senken sich Vorhänge aus roten, gelben und grünen Rauchbomben. Das Licht blendet.

„Wie viele?“

„Ich kann nichts sehen!“

„Unsere?“

Drüben im Industriegebiet passiert etwas: „Einschläge! Vier, nein, fünf Dicke. Bei der Papierfabrik!“, und dahinter, vor der glühenden Gebirgssilhouette, vor den weißen Flächen der verschneiten Felder – die komplette Flotte.

„Erste Welle!“, meldet Ursel. „Vielleicht dreitausend Meter!“

Roswitha deckt das Mikrofon mit der Hand ab: „Die wollen jetzt wirklich wissen, wie viele das sind!“, und es füllt den ganzen Himmel mit Dröhnen und Pfeifen. Unten pflügt es ihnen entgegen. Gewaltige Schläge in schneller Folge.

„Reihenwürfe!“, ruft Ursel.

Einschläge Kaiserstraße. Einschläge Ruprechtstraße. Einschlä­ge Buchenweg, Lärchenweg, Schrebergärten. Fontänen aus Erde, Wellpappe und Kartoffeln. Volltreffer Tivoli.

„Siebzig Bomber!“, meldet Roswitha, hat tatsächlich die Nerven behalten, steht ganz vorne und zählt weiter.

Ursel atmet tief aus.

Die Schneise der Einschläge kreuzt die Gleise, wo sie fächerförmig in den Bahnhof münden. Böschungen heben sich, stehen kurz in der Luft, gehen anderswo als Geröllhagel nieder. In schlanken Säulen steigt der Fluss aus seinem Bett. Als wollte er die Brücke von oben betrachten. Eine Druckwelle fegt den Schnee von allen Dächern und Ursel von ihrem Klappstuhl. Sofort rappelt sie sich wieder auf. Wo ist der Stuhl? Greift sich an den Kopf. Mütze verschwunden. Greift sich an die Brust. Fernglas weg. Roswitha hat sich zum Schlafen in eine Ecke gelegt. Gute Güte. Von Süden rollt schon eine weitere Welle heran. Es regnet, nein, es rieselt Stabbrandbomben. Wie Fischlaich.

Ursel müsste das melden. Sie weiß aber nicht, wie sie das beschreiben soll.

Da ist ein Loch in der Decke des Lichtspielhauses. Das war vorher noch nicht da. Es klafft auf halber Breite des Saals. Über den ersten zehn Reihen ein Stück schimmernder Sternenhimmel. Das Loch ist gezackt, Stromkabel hängen herab. Gesplitterte Balken.

Walter Kattwinkel liegt im Mittelgang auf dem Rücken. Seine Hosenträger sind gerissen. Er blutet aus der Nase. Vorsichtig zieht er die Beine an den Leib und rollt sich auf die Knie. Der Teppich ist sehr dick und weich und gepudert in einem Mehl aus Stuck. So schläft er kurz ein. Als er wieder aufwacht, ist das Loch in der Decke noch immer da. Den purpurnen Vorhang hat es aus der Halterung gerissen. Weiß und unberührt aber die Leinwand. Für den Abend steht „Heimkehr“ mit Attila Hörbiger und Paula Wessely auf dem Programm. Bis dahin ist Ordnung zu schaffen. Wach auf, Walter! Er wacht auf und stemmt sich hoch. Seine Beine sind wackelig, tragen ihn aber. Sessel für Sessel tastet er sich den Mittelgang hinauf. So ein Schlamassel.

Fortsetzung folgt

© Klett-Cotta, Stuttgart

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