„Wache Sinne“ für den Marktplatz

  • Vier Meter über dem Gerabronner Marktplatz thront die Sandstein-Skulptur „Wache Sinne“. Foto: Birgit Trinkle
  • Auch am Nachbarbarhaus, ebenfalls sehr liebevoll restauriert, findet sich ein alter Neidkopf. Foto: Birgit Trinkle
  • Viele Gerabronner werden sich noch an das „Gängele“  erinnern. An der Stelle, an der das Kastenamt stand, findet sich heute der Brunnen. Unser Bild zeigt einen Blick ins Fotoalbum. Foto: Birgit Trinkle
  • Skulptur „Wache Sinne“: Der Mund Foto: Franz Raßl
  • Skulptur „Wache Sinne“: Das Auge Foto: Franz Raßl
  • Dieser Steinpfosten war früher an der Gerabronner NSDAP-Zentrale zu finden. Heute steht er am Haus der Rosenthals für etwas ganz anderes. Foto: Birgit Trinkle
  • So hat alles angefangen: Franz Raßls erste Arbeitsskizze. Foto: Birgit Trinkle

Kunst Dem Gerabronner Steinmetz Franz Raßl ist ein weiteres steinernes Meisterwerk am Marktplatz zu verdanken. Agnes und Erhard Rosenthal haben dem Brunnenstein einen Sandsteinkopf zur Seite gestellt.

Am Anfang war die Idee des Neidkopfes. Seit alters her hängen steinerne Fratzen an Hohenloher Häusern, um böse Geister abzuschrecken: Seht her, hier hat euresgleichen längst Fuß gefasst, es gibt nichts mehr zu holen. Daraus ist freilich etwas ganz anderes geworden: „Ich sehe nicht einen bösen Zug in diesem Gesicht“, sagt Agnes Rosenthal aus Gerabronn. Ihr Mann Erhard sieht seinen Großvater, auch wenn lediglich Kopfhaltung und Blickrichtung an den Breiters-Bäck erinnert. Um diese Geschichte verstehen und Steinmetz Franz Raßls jüngstes Werk wirklich würdigen zu können, muss man kurz in der Zeit zurückgehen.

Der Blick zurück

Der Gerabronner Bäcker, der den ersten Dampfbackofen der Stadt hatte und in der spärlichen Freizeit so gern in einem Tümpel dümpelte, reglos, bis auf den wacker wackelnden großen Zeh, war wohl eine legendäre Gestalt. Er und später auch sein Sohn – Letzterer kniete auf Kissen am Fenster, die Arme ebenfalls auf Kissen gestützt – blickten stets nach links. Direkt vor ihnen nämlich, etwa eineinhalb Meter entfernt, stand seit dem Mittelalter das Kastenamt, also das Finanzamt des früheren Oberamts Gerabronn – 1540 erstmals als Gasthaus „Roter Ochsen“ erwähnt. Und Großvater und Vater wollten nun mal keine Mauer sehen, sondern das Helle, den Himmel und vor allem den Marktplatz.

„Ich wusste davon nichts“, sagt Bildhauer Raßl. Nur dass sich in seinem Kopf das Vorhaben „Neidkopf“ nie wirklich festgesetzt hat. Was er von Anfang an wusste: Das würde eine besondere Arbeit werden. Warum sonst hätte er den roten Sandsteinblock auswählen sollen, den er vor über 40 Jahren, nach seinem Studium an der staatlichen Akademie der bildenden Künste in Stuttgart, mit nach Gerabronn gebracht hat?

„Ohne nachzudenken“, „völlig intuitiv“, hat er sich vom Konzept der – wie die Wasserspeier – im 90-Grad-Winkel vom Haus abstehenden Neidköpfe verabschiedet. Auch er hatte dabei das querstehende Kastenhaus im Kopf, dessen zunehmende Verwahrlosung bis hin zum Abriss vor elf Jahren er ebenso tief bedauert hat wie viele andere Gerabronner. „Wie die Gemeinde 40 Jahre auf das heruntergekommene Gebäude und das zugemüllte Gängele blicken konnte, ohne etwas zu unternehmen, werde ich nie verstehen.“

Solche Gedanken waren es wohl, die aus dem Neid- einen Sinneskopf machten. Ein überdimensionales Ohr – ein Meisterwerk für sich –, das aufgerissene blaue Blei-Auge, die große Nase, die Hautstruktur, der halb geschlossene, halb von Bart bedeckte Mund: Das alles verdichtete sich zum Gesamteindruck und zum Titel „Wache Sinne“. Ein freundliches Gesicht. Aber auch eines, das mahnt: Macht den Mund auf, seht, was um euch herum passiert, verschließt euch nicht.

Der verwendete Maintal-Sandstein ist kostbarer als der Hohenloher Sandstein. Raßl: „Der ist nicht leicht zu bearbeiten und kann einen durchaus in die Knie zwingen. Aber er überdauert auch.“ Eine der großen Herausforderungen in diesem Projekt: die Neigung. Immer und immer wieder hat Raßl nachgemessen – und dann tief aufgeatmet, als er das fertige Werk mit Gabelstapler und Aufschiebekran auf den Marktplatz brachte und es wie von selbst an den Bügeln im Stein über die Bolzen in der Hausmauer rutschte.

Dass der Kopf sehr stark nach vorne gekippt ist, muss man wissen. Zu sehen ist es nicht. Nur so konnte es nämlich gelingen, dass der Sinnesmensch den Leuten ins Auge blickt, obwohl er vier Meter über dem Marktplatz thront, über dem zwischen Kirche und Progymnasium errichteten Brunnen.

Die Brunnen-Skulptur dort wurde übrigens auch von Raßl angefertigt, als Meditationsstein zum Thema Wasser, und auch er zeugt von der tiefen Verbundenheit des Meisters zu seiner Stadt. Zwar lebte Raßl vor dem Studium in Gaggenau, wo er seine Ausbildung zum Steinbildhauer als Landessieger abschloss.

Doch den weitaus größten Teil seines Lebens verbrachte er in Gerabronn. Dort ist er tief verwurzelt. Und deshalb ist ihm auch der Marktplatz so wichtig.Diese Verbundenheit hat er mit den Auftraggebern gemein, Agnes und Erhard Rosenthal. Erhard Rosenthal blättert im Buch „Von Tor zu Tor“ des Historischen Arbeitskreises Gerabronn, das sich auch der Bäckerei Breiter widmet. Als diese Ende der 1950er-Jahre für immer geschlossen wurde und die Familie nach Hammelburg zog, weil Vater Karl bei der Bundeswehr war, habe ihn „lange Zeit kolossales Heimweh“ geplagt. Der Kontakt nach Gerabronn sei jedoch durch seine Großmutter Rosa Breiter und deren Schwägerin Mina, die bis ins hohe Alter im Haus wohnten, immer lebendig geblieben.

Viel abverlangt

Als ihn seine schwer kranke Mutter damals fragte, ob er das Haus übernehmen wolle, habe er mit seinem Ja-Sagen sofort „eine Verantwortung für die Liegenschaft“ gespürt, obwohl die Umgebung zu diesem Zeitpunkt „desolat, ohne wirkliche Perspektive“ gewesen sei. Sein Ziel war es, das Haus im Rahmen seiner Möglichkeiten zu sanieren. „Und ich wollte es gut machen. Ein zartes Pflänzchen in dem umliegenden Siff.“ Dass das nicht einfach sein würde, wusste er. Wie viel es den Eheleuten tatsächlich abverlangte, zeigte sich erst mit den Jahren.

Neben der Sanierung des Hauses war und ist ihm, wie er sagt, die nachhaltige Belebung des alten Ortskerns ein wichtiges Anliegen. Über den Beschluss der Stadt, einen Marktplatz mit Brunnen neben der evangelischen Kirche zu gestalten, hat sich der 77-Jährige sehr gefreut: „Es war ein guter Entschluss!“. Dieser Platz sei heute ein Treffpunkt für Jung und Alt: „Das muntere Plätschern des klaren Wassers animiert Groß und Klein auf unterschiedliche Weise.“

Die Älteren eher zum Verweilen. Und die Jüngeren und Kleinen? Wie gut, dass der Brunnen begehbar und dadurch erlebbar ist: Es sei eine Freude zu sehen, „was Kindern alles einfällt, auf welche kleinen Abenteuer und Mutproben sie sich einlassen“. Zusammenfassend stellt er fest: „Durch die Stadtsanierung sind wir von ‚hindedrum nach vorre grudscht‘.“ Er und seine Frau Agnes seien dankbar für diese gute Entwicklung. Mit dem von Franz Raßl gestalteten Kopf an ihrer Hauswand, der „viele Facetten des Wahrnehmens sichtbar macht“, hoffen die beiden, Deutungen und Diskussionen anzuregen und dazu beizutragen, „dass sich der Marktplatz weiterhin auf vielfältige Weise zeigen kann.“

Der ist nicht leicht zu bearbeiten. Aber er überdauert auch. Franz Raßl über den verwendeten Sandstein

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