Günter Wallraff Vor 40 Jahren erschien sein Bestseller „Ganz unten“. Bis heute deckt der 83-Jährige Missstände in Pflegeheimen, bei Fastfood-Ketten und in Reinigungsfirmen auf. Besuch bei einem der bekanntesten Investigativjournalisten des Landes.
Vorweg sei kurz aufgeräumt mit ein paar Ungenauigkeiten, die in die deutsche Geschichte eingegangen sind. Erstens: „Ganz unten“, das Buch, das bis heute als meistverkauftes Sachbuch in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gilt, „ist eigentlich kein Sachbuch“. Das sagt an einem launigen Oktobertag bei Espresso und Leitungswasser der Autor selbst, Günter Wallraff, der die Reportagen in seiner Rolle als Gastarbeiter Ali Levent Sinirlioglu „tiefgreifende Selbsterkundungen“ nennt, die aber vor Gericht standhalten müssen und deswegen den Stempel Sachbuch erhielten.
Das Buch sei „durchlebt, erfühlt und erlitten“ hat Wallraff immer wieder gesagt und sagt es auch heute, 40 Jahre später. Komplett subjektiv, aber beruhend eben auf gerichtsfesten Tatsachen. Das Sachbuch, das kein Sachbuch ist, ließ das Land mehr über prekäre Arbeitsbedingungen und Rassismus nachdenken, als vielen lieb war. Gerechtere Arbeitsverträge, bessere Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz, stärkere Kontrollen von Konzernen, Solidarität und ein breiter Diskurs über Rassismus und soziale Ungerechtigkeit waren nur einige der Folgen. „Ganz unten“ hallt bis heute, da Geflüchtete zu fragwürdigen Bedingungen Pakete ausliefern und Osteuropäer in Großschlachtbetrieben im Akkord Schweine zerteilen, gehörig nach.
Buch in 38 Sprachen übersetzt
Wallraff, der am 1. Oktober 83 Jahre alt geworden ist und für sein „Team Wallraff“ (RTL) weiter vor der Kamera steht, Missstände in Pflegeheimen, Fastfood-Restaurants oder Reinigungsunternehmen aufdeckt, sich „einbringt, solange Kraft und Energie dafür da sind“, empfängt im Hinterhof seines Hauses in Köln-Ehrenfeld. Hier versteckte er einst den Schriftsteller Salman Rushdie, nachdem eine Fatwa wegen angeblicher Gotteslästerung gegen ihn ausgesprochen worden war. Der Dichter Wolf Biermann kam nach seiner Ausbürgerung aus der DDR bei Wallraff unter, der Kunst-Manager Helge Achenbach, als er seine Haftstrafe wegen Betrugs abgesessen hatte. Im gewaltigen Regal sind viele der „Ganz unten“-Exemplare zu finden – das Buch ist in 38 Sprachen erschienen.
Zweite Ungenauigkeit, wenn es nach Wallraff geht: So wenig „Ganz unten“ ein hundertprozentiges Sachbuch ist, so wenig würde er sich als hundertprozentigen Investigativjournalisten bezeichnen – obwohl es bis heute wohl keinen bekannteren Investigativjournalisten gibt. Der Mann, der in seinen Rollen als Hans Esser bei der „Bild“-Zeitung und Ali Levent Sinirlioglu bei Thyssen und McDonald’s Journalismusgeschichte schrieb, war „vor allem immer auf der Suche nach der eigenen Identität“, sagt er. „Ich – der Andere“ nannte er eine frühe Reportagesammlung, „Ik (Ali)“ heißt die niederländische Übersetzung von „Ganz unten“. Er maskiere sich, „um mich zu suchen und in einem vor mir zu verbergen“ schrieb er schon mehr als 20 Jahre vor „Ganz unten“ in sein Tagebuch. „‚Ganz unten’ ist also auch nicht nur Recherche: Es ist eine Selbstfindung“, sagt Wallraff. „Auf der Suche nach meiner Identität war ich in allen meinen Rollen.“
In seinen Maskeraden habe er sich selbst oft mehr gespürt, als wenn er als Günter Wallraff auf Veranstaltungen oder Empfängen auftreten sollte. „Ich fühle mich dann authentischer, bewusster, mir selbst näher als in der Rolle des prominent gewordenen Journalisten und Schriftstellers.“ Man kann „Ganz unten“ also auch als tiefenpsychologische Selbstanalyse lesen – als Rollen-Tagebuch eines Menschen, der als Fünfjähriger ins Heim kam, seine Kleidung abgeben musste, nicht wusste, wie ihm geschah, und zeitlebens der Frage nachging, mit der ein anderer Suchender ebenfalls einen Bestseller landete: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“
Dass Wallraff in seinen Rollen den Rassismus der Deutschen entlarvte, die Gier und das unmoralische Profitstreben von Konzernen, Wirtschaftskriminalität und „modernen Sklavenhandel“, lässt sich in diesem Kontext als notwendiger Begleiteffekt interpretieren. Denn, sagt Wallraff: „Ich habe diese Rolle nicht angenommen, um einen Bestseller zu schreiben.“ Von „Ganz unten“ hätten ihm Kollegen und Experten vorher abgeraten – „das Türken-Thema, hat es beispielsweise sogar bei der ARD-Sendung Monitor ein Jahr zuvor geheißen, sei doch längst ‚ausdiskutiert‘“.
Günter Wallraff war 43, als er die Rolle des 26-jährigen Gastarbeiters Ali annahm – und es zeigte viel über das Selbstverständnis einer Gesellschaft, dass es für sie normal war, dass ein schwer schuftender Gastarbeiter weitaus älter aussah, als er ausweislich war. „Ausländer, kräftig, sucht Arbeit, egal was, auch Schwerst- u. Drecksarbeit, auch für wenig Geld“ inserierte Wallraff bewusst enthemmend. Hieß: Ich, Ali, lasse alles mit mir machen, ich bin nichts wert – werdet ihr mich aber auch behandeln wie Dreck? Die Antworten sind Geschichte.
James Bond der kleinen Leute
„Ganz unten“ verkaufte sich nach seinem Erscheinen am 21. Oktober 1985 allein in den ersten zwei Wochen 647.258 Mal, „wahrscheinlich Weltrekord“, vermutete „Der Spiegel“. Nach knapp vier Monaten waren zwei Millionen Exemplare verkauft, es wurden schließlich mehr als fünf Millionen allein in Deutschland – dazu kamen die vielen Übersetzungen, die türkische Ausgabe verkaufte sich über 100.000 Mal, die niederländische auch. Das „Buch der 1000 Bücher“ aus dem Hardenberg-Verlag listet „Ganz unten“ als eines der 1000 bedeutsamsten Bücher der Kulturgeschichte auf. „Wusste ich gar nicht“, sagt Wallraff und kritzelt sich den Titel in sein Notizbuch.
In Rezensionen wurde Wallraff seinerzeit als „moderner Robin Hood“, „James Bond der kleinen Leute“ oder „Zorro des Spätkapitalismus“ bezeichnet – und so zum Helden nicht nur der türkischen Community. In den miefigen 80er-Jahren musste ein maskierter Deutscher her, um die Ressentiments der Deutschen zu entlarven.
Seine Methode: Er stellte sich – wie „Eulenspiegel“ oder „Der brave Soldat Schwejk“ – dumm („Mutter Griech, Vatter Türk“, daher könne er kein Türkisch), und bekam Antworten, die ein Journalist sonst nie zu hören bekäme. Junge Kolleginnen und Kollegen versuchen das in seinem „Team Wallraff“ (RTL) bis heute – und bringen die verdeckte Recherche so auch zu einem Publikum, das nicht „Die Zeit“ liest, in der Wallraff jahrelang seine Undercover-Einsätze veröffentlichte.
„Wir leben heute nicht allein in einer Klassengesellschaft, es ist fast eine Kastengesellschaft geworden“, sagt Günter Wallraff, der Wert darauf legt, dass „die meisten meiner Freunde und Bekannten aus verschiedenen Kulturen und beruflichen Hintergründen kommen“. Und weiter: „Ich denke, die Arbeitsbedingungen in der Pflege, der Paket-, der Reinigungsbranche, bei Subunternehmen auf dem Bau oder in der Fleischindustrie machen die Methode der verdeckten Recherche heute wichtiger denn je.“
Dass Wallraff in die Rolle eines kurdischen Leiharbeiters schlüpfte, wurde vor 40 Jahren nur von sehr wenigen als kulturelle Aneignung betrachtet. 25 Jahre später in der Rolle des somalischen Gastarbeiters Kwami Ogonne hallte die Kritik des „Blackfacing“ ungleich lauter. Wallraff ficht das nicht an. Er wollte immer unter Menschen sein, die am Rande der Gesellschaft leben – auch, um sich selbst zu finden. Er tat das nicht für ein paar Tage: In der Ali-Rolle lebte und litt er zweieinhalb Jahre. Und setzte dabei bewusst auch seine Gesundheit aufs Spiel.
Nebenbei hat Günter Wallraff mit seinem Rollenspiel den investigativen Journalismus revolutioniert. Mit „Ganz unten“ hat er der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten. Als Gastarbeiter Ali hat er nicht nur in seiner Maskerade geduscht und geschlafen. „In den zweieinhalb Jahren bin ich zu Ali geworden.“