Grenzen ziehen

  • Jacqueline Westermann Sarah Eick

Regelmäßig kassiert das Bundesverfassungsgericht Gesetze. Gleichzeitig riskiert die Regierung mit waghalsigen Regelungen auch genau das. Was sagt uns das?

Als das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren den Nachtragshaushalt 2021 für verfassungswidrig erklärte, war vielen die Tragweite dieser Entscheidung nicht auf den ersten Blick klar. In Oppositionskreisen feierte man, dass Karlsruhe die kreativen Pläne der Regierung in einer Notlage bewilligte, aber ungenutzte Kredite umzuwidmen und für andere Zwecke aufzunehmen, einkassierte. Recht schnell wurde aber deutlich, wie tief das Gericht die Haushaltspolitik durch das Urteil regulierte und damit die Gestaltung künftiger Politik massiv beeinflusste.

Dass die Karlsruher Richterinnen und Richter Gesetze kassieren, ist nicht neu. Immer wieder setzt das Gericht der Politik Grenzen – das ist auch seine Aufgabe. Umgekehrt testet der Gesetzgeber immer wieder seine Grenzen, trifft riskante Entscheidungen und setzt darauf, dass entweder niemand klagt – oder dass das Gericht für die Politik entscheidet.

Ein Prozess, der zur Demokratie dazugehört. Wenn Gerichte unabhängig Entscheidungen treffen dürfen und gegebenenfalls dem Regierungshandeln einen Riegel vorschieben können – in autokratischen Systemen undenkbar –, bezeugt das die Stärke einer Demokratie. Doch wann ist der Punkt erreicht, an dem verfassungsgerichtliche Vorgaben die Gestaltungsfreiheit zu sehr beschränken? Wie viel Macht für das Verfassungsgericht ist zu viel, wann droht eine Verrechtlichung der Politik?

Auch die aktuelle Bundesregierung wird sich früher oder später mit einer Entscheidung des Gerichts konfrontiert sehen. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden ihre Pläne zur neuen Grundsicherung für Arbeitsuchende beklagt werden. Denn mit dem Plan, Leistungen unter bestimmten Umständen in Gänze zu streichen, bewandert Schwarz-Rot einen schmalen verfassungsrechtlichen Grad. Ob hier der nächste Rüffel für Schwarz-Rot wartet, oder das Gericht die Lage neu bewertet, wird sich zeigen.

Klar ist, dass auch das Verfassungsgericht Umstände neu interpretieren, neue Erkenntnisse in seine Urteilsfindung fließen lassen und gegebenenfalls anders entscheiden können muss. Die Richterinnen und Richter seien trotz ihrer Fähigkeiten „auch nur fehlbare Menschen und keine über allem schwebenden Geschöpfe eines objektiven Weltgeistes“, befand die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach.

Nur weil eine Norm einmal als verfassungswidrig eingestuft wurde, muss der Gesetzgeber nicht auf alle Ewigkeit die Finger von diesem Gebiet lassen. Die Politik sollte sich aus Angst vor dem Verfassungsgericht niemals selbst geißeln und zurückhalten. Andernfalls droht der politische Prozess zu erlahmen und die politische Kultur Schaden zu nehmen. Gleichzeitig sollte eine Regierung immer so verantwortlich handeln, dass nicht bei jeder Norm spekuliert wird, ob jemand gegen das Gesetz klagen könnte. Und nicht bei jeder Politikgestaltung kann die Regierung eine Verfassungsrüge riskieren. Das würde am Vertrauen in die Politik ebenso kratzen wie an der Akzeptanz des Verfassungsgerichts.

leitartikel@swp.de

Die Politik sollte sich aus Angst vor dem Verfassungsgericht niemals selbst geißeln und zurückhalten.

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