Die Sonderpädagogik im Land ist massiv unterversorgt

  • Zehn Jahre Inklusion: 2015 wurde in Baden-Württemberg die Sonderschulpflicht abgeschafft. Doch es hakt bis heute. Foto: Jonas Güttler/dpa

Schule Neue Zahlen zeigen: Es fehlen viele Lehrer, oft fällt Unterricht aus. Die Bildungseinrichtungen in Baden-Württemberg sind am Limit.

Zehn Jahre nach Abschaffung der Sonderschulpflicht sind die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) in Baden-Württemberg weiter eine tragende Säule im per Gesetz inklusiv ausgerichteten Bildungssystem des Landes. Rund 85 Prozent der Kinder, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, besuchten zuletzt ein SBBZ, nur knapp 15 Prozent eine Regelschule. Viele Eltern von Kindern mit einer Behinderung sehen in den SBBZ offenbar das bessere oder passendere Bildungsangebot. Doch neue Zahlen aus einer Antwort des Kultusministeriums auf eine Landtagsanfrage der FDP-Fraktion zeigen: Die SBBZ sind personell unterversorgt und arbeiten vielerorts am Limit.

Zwar hat das Land in den vergangenen Jahren die Zahl der Lehrkräfte für SBBZ erhöht. Seit 2015 wurden rund 1350 zusätzliche Stellen geschaffen, die Studienkapazitäten für das Lehramt Sonderpädagogik deutlich ausgebaut – zuletzt auf fast 700 Plätze jährlich. Zudem wurden Türen für Quereinsteiger geöffnet. Dennoch wird der Bedarf nicht gedeckt: Der Versorgungsgrad mit Lehrkräften lag im Schuljahr 2023/2024 im landesweiten Schnitt bei nur 87 Prozent, wie Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) einräumt. In einzelnen Bezirken wie Heilbronn oder Böblingen lag die Personaldeckung noch deutlich darunter. Fünf Standorte meldeten eine Unterrichtsversorgung unter 60 Prozent. So groß ist der Lehrermangel an keiner anderen Schulart.

Die Folgen sind gravierend. Insgesamt wurden von 209.754 Wochenstunden nur 183.465 tatsächlich gehalten. Im November 2024 lag der Nettoausfall landesweit bei 3,1 Prozent der Planstunden, an einzelnen Standorten noch höher. 69 SBBZ mussten im Schuljahr 2024/25 die Unterrichtsstunden pro Woche strukturell kürzen – teils über ein gesamtes Halbjahr.Dass es eng werden würde, hatte Schopper zu Beginn dieses Schuljahres angekündigt. 347 Stellen an SBBZ waren da offen – mehr als jede dritte zu besetzende Stelle und mehr als in jeder anderen Schulart. Die Versorgungssituation bleibe „angespannt“, räumte sie ein.

Hauptproblem: Der Arbeitsmarkt für Sonderpädagogen ist leergefegt. Um den Unterricht zu sichern, greift das Land daher zunehmend auf Lehrkräfte ohne reguläres sonderpädagogisches Lehramtsstudium zurück: Im Schuljahr 2024/25 arbeiteten an öffentlichen SBBZ 978 Personen mit anderen Qualifikationen, etwa Erzieher, Physiotherapeuten oder Heilerziehungspfleger.

Die Gewerkschaft GEW prangert die Unterversorgung schon lange an. „Im Landeshaushalt ist seit langer Zeit nur eine Lehrerversorgung von maximal 88 Prozent für SBBZ vorgesehen“, sagt GEW-Landeschefin Monika Stein. „Dass ausgerechnet die Schulart mit der leisesten Lobby die schlechteste Versorgung von allen hat, ist ein bildungspolitisches und moralisches Armutszeugnis“, findet sie.

Besserung ist kurzfristig nicht in Sicht. Schopper verweist auf die Ausweitung von Studien- und Ausbildungsplätzen sowie neue Wege der Personalgewinnung. Ein weiterer Ausbau darüber hinaus sei aber aktuell nicht geplant. Eine aktuelle Modellrechnung sieht den Bedarf an Sonderpädagogen mittelfristig gedeckt. Kritiker wie der FDP-Bildungspolitiker Timm Kern, der die Anfrage gestellt hat, warnen jedoch, dass diese Annahmen angesichts wachsender Aufgaben, steigender Schülerzahlen und hoher Teilzeitquoten zu optimistisch sein könnten.

„Die aktuellen Zahlen zur Personalsituation an den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) sind alarmierend“, findet Kern. „Wenn im Schuljahr 2023/2024 die Unterrichtsversorgung landesweit nur bei 87 Prozent liegt – an einzelnen Standorten sogar unter 60 Prozent –, tausende Quereinsteiger ohne sonderpädagogische Ausbildung eingesetzt werden und das Verhältnis von Schülerinnen und Schülern zu Lehrkraft stark gestiegen ist, dann ist das eine bildungspolitische Bankrotterklärung.“

Kern fordert „eine echte Fachkräfteoffensive“ für Sonderpädagogen. „Es darf nicht sein, dass ausreichend Bewerber vorhanden wären, aber nicht zum Studium zugelassen werden. Der Numerus clausus muss endlich abgeschafft, die Studien- und Ausbildungskapazitäten erhöht und die Arbeitsbedingungen signifikant verbessert werden.“

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