Der Mann der freien Rede

Kommunikation Friedrich Merz spricht wie seit 20 Jahren kein Kanzler mehr. Das zeigt die Debatte zur „Stadtbild“-Äußerung. Im Internetzeitalter ist er noch nicht richtig angekommen.

Friedrich Merz ist einer, der Freude daran hat, auch mal anzuecken. Der sein ganzes politisches Leben hindurch Freude daran hatte, Debatten auszulösen. Doch in diesem Moment wirkt er wie jemand, der sich wünscht, dass es mit dem Streit wieder vorbei ist.

Als der Kanzler sich auf seiner Reise nach London zum Streit über seine „Stadtbild“-Äußerung erklärt, ist das ein ungewöhnlicher Moment. Keine Fragen zur Innenpolitik im Ausland, das ist die übliche Regel, an die sich auch Journalisten meist halten. Doch jetzt spricht Merz das Thema von sich aus an. Der Mann, der für die freie Rede bekannt ist, liest offenbar ab. Die Fernsehbilder zeigen jedenfalls, wie Merz Satz für Satz immer wieder nach unten schaut.

„Ja, wir brauchen auch in Zukunft Einwanderung“, sagt er. „Denn schon heute sind Menschen mit Migrationshintergrund, wie wir es ausdrücken, unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes.“ Probleme machten diejenigen, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus hätten, nicht arbeiteten und sich auch nicht an die Regeln hielten. „Vielen von ihnen bestimmen auch das öffentliche Bild in unseren Städten“, sagt Merz. Deshalb hätten viele Menschen Angst, sich an Bahnhöfen, in bestimmten Parkanlagen oder auch Stadtteilen zu bewegen.

Es ist ein ganz anderer Auftritt als jener, bei dem Merz in Potsdam in der vergangenen Woche sagte, man mache Fortschritte in der Migrationspolitik. „Aber wir haben natürlich im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“, fügte er hinzu. Rumms. Die Äußerung sorgte für großen Wirbel. Sehr wohlwollend konnte man sie so interpretieren, wie der Kanzler sie erst Tage später in London präzisiert hat. Aber so, wie er seine Worte in Potsdam formuliert hatte, ließen sie viel Interpretationsspielraum. Und sie verletzten viele.

Was hatte Merz sagen wollen? Wendete er sich pauschal gegen Menschen mit Migrationshintergrund? Will er sie, hart gesagt, am liebsten nicht mehr auf der Straße sehen? Fischt er an dieser Stelle mit AfD-ähnlichen Formulierungen nach Wählern am rechten Rand?

Merz‘ Kommunikation hat zwei Eigenheiten, die sie fundamental von der seines Vorgängers Olaf Scholz unterscheidet. Und auch von der Angela Merkels. Der Mann aus dem Sauerland spricht, wie es seit 20 Jahren kein Kanzler mehr getan hat. Merz formuliert oft spontan. Das hat er als Oppositionspolitiker getan – und er tut es auch als Regierungschef. Er ist schon mal unvorsichtig. Er nimmt es in Kauf, wenn er dabei Menschen vor den Kopf stößt. Unvergessen ist, wie Merz als Oppositionsführer im Jahr 2023 über abgelehnte Asylbewerber sprach. „Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“ Die Bundeszahnärztekammer wies das zurück. Es ist nicht das einzige Beispiel.

Bei aller berechtigten Kritik hat Merz‘ Kommunikation für die Demokratie auch Vorteile. Olaf Scholz hat seine Sätze so lange bedacht und so intensiv glattgeschliffen, dass oft kaum etwas Greifbares übriggeblieben ist. Es war, als hätte er den Wunsch gehabt, den berühmten Satz des US-amerikanischen Philosophen Paul Watzlawick zu reformieren: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Die Zuhörer hatten dabei oft das Gefühl, Scholz interessiere sich nicht für sie.

Gemeinsam ist Merz und Scholz ein gewisses Maß an Bockigkeit. Scholz gab die immer selben Antworten – egal, wie oft man ihn fragte. Merz wiederum entgegnete auf die Frage, was er mit seiner „Stadtbild“-Äußerung in Potsdam eigentlich gemeint habe, noch Anfang der Woche, er habe nichts zurückzunehmen. Doch statt sich zu erklären, sagte er nur: „Fragen Sie Ihre Töchter.“

Unter dem Motto „Wir sind das Stadtbild“ demonstrierten Menschen vielerorts gegen Merz‘ Äußerungen. In den sozialen Medien zeigte sich: Merz‘ „Stadtbild“-Äußerung eröffnete auch eine ideale Bühne für seine Gegner. Überhaupt zeigt sich: Ein Satz, der früher oft auch schnell wieder vergessen worden wäre, löst heute oft eine unkontrollierbare Diskussionslawine aus. Merz hatte seine erste politische Karriere in den Neunzigern und Anfang der 2000er. Er unterschätzt das Internet.

„Ich würde beiden Seiten raten, rhetorisch abzurüsten“, sagt der Düsseldorfer Politikprofessor Ulrich von Alemann. Einerseits appelliere Merz unterschwellig an diffuse migrantenfeindliche Gefühle. Das sei Populismus, aber noch keine AfD-Sprache, so von Alemann. Andererseits habe Merz auch einen Punkt. Es gebe in Deutschland Problemstadtteile, wo viele nicht mehr gern hingingen. „Dies ist eine eindeutige Tatsache. Da kann man jeden Polizeibeamten oder das Ordnungsamt befragen.“

Viktor Orbán schwänzt Gipfel-Start

Ukraine-Krieg Europas Staats- und Regierungschefs bringen in Brüssel das 19. Sanktionspaket gegen Russland auf den Weg. Der Putin-nahe ungarische Premierminister entzieht sich dem Prozedere.

Ein wichtiger Mann fehlt beim Gipfelstart. Ungarns Premierminister Viktor Orbán schwänzte die wichtige Arbeitssitzung der Staats- und Regierungschefs am Donnerstagmorgen in Brüssel und ersparte sich damit eine kleine Demütigung. Während seine Kollegen ihre Unterschrift unter das 19. Sanktionspaket der EU gegen Russland setzten, weilte Orbán bei einem „Friedensmarsch“ anlässlich des Jahrestags des ungarischen Volksaufstands von 1956 gegen die sowjetische Besatzung. Der Putin-Freund aus Budapest hatte in der Vergangenheit wiederholt Sanktionen gegen Russland blockiert und die EU damit in die Bredouille gebracht.

Dieses Mal ging aber alles reibungslos über die Bühne. Zentraler Punkt des Sanktionspaketes ist ein vollständiges Importverbot von Flüssigerdgas (LNG) aus Russland, das schon 2027 gelten soll und damit ein Jahr früher als ursprünglich geplant. Zudem sind auch weitere Strafmaßnahmen im Finanzsektor und Handelsbereich sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit russischer Diplomaten innerhalb der EU vorgesehen.

Der dänische Außenminister Lars Løkke Rasmussen sprach am Donnerstag im Namen der derzeitigen dänischen EU-Ratspräsidentschaft von einem guten Tag für Europa und für die Ukraine. „Die Sanktionen zeigen Wirkung und treffen die russische Wirtschaft. Russland hat zunehmend Schwierigkeiten, seinen illegalen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu finanzieren“, erklärte er. Zuletzt hatte sich nur noch die Slowakei gegen die Verschärfung der Maßnahmen gestemmt. Das kleine Land bezieht noch große Mengen Gas und Öl aus Russland und befürchtet bei einem Importstopp gravierende Nachteile für seine Bürger. Nun erklärte Regierungschef Robert Fico, die EU habe wie von ihm gefordert zugesagt, mehr gegen explodierende Energiepreise zu unternehmen.

Sichtlich erleichtert über das neue Sanktionspaket der EU äußerte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der als Gast zum Gipfel in Brüssel eingeladen war. „Diese Entscheidung über das 19. Sanktionspaket ist für uns von enormer Bedeutung“, betonte er, um dann im selben Atemzug die USA zu loben. Der Grund: Erstmals in der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump hatte die US-Regierung am Mittwochabend neue Sanktionen direkt gegen Russland verhängt. „Darauf haben wir gewartet. So Gott will, wird es funktionieren“, sagte Selenskyj am Rande des EU-Gipfels. Offensichtlich hat Kreml-Herrscher Wladimir Putin mit seiner Hinhaltetaktik die Geduld Trumps bei dessen Suche nach einer Lösung des Konfliktes in der Ukraine zu sehr strapaziert. US-Finanzminister Scott Bessent erklärte in Washington, angesichts der Weigerung Putins, den „sinnlosen Krieg“ gegen die Ukraine zu beenden, würden die zwei größten russischen Ölkonzerne Rosneft und Lukoil mit Strafmaßnahmen belegt.

Auch Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zeigte sich in Brüssel zufrieden mit dem neuen Sanktionspaket, doch wurde deutlich, dass er persönlich für den Gipfel einen ganz anderen thematischen Schwerpunkt setzte. Am Rande des Treffens äußerte er seine „allergrößte Sorge um die Arbeitsplätze in Europa“. Mit Nachdruck forderte Merz am Donnerstag „schnelle Entscheidungen“ der EU zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Dies betreffe „ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland in ganz besonderem Maße“, betonte der Kanzler. Aus diesem Grund müsse Brüssel den Abbau von bürokratischen Hürden „sehr viel schneller“ vorantreiben als bisher. In den Tagen vor dem Gipfel hatte Friedrich Merz bereits die „Regulierungswut“ der EU heftig kritisiert und forderte etwa eine grundlegende Veränderung im Denken der EU-Kommission.

Sein völliges Unverständnis äußerte der Kanzler in diesem Zusammenhang über eine Entscheidung des Europäischen Parlaments vom Mittwoch. Dort hatten die Abgeordneten mit hauchdünner Mehrheit gegen Lockerungen des äußerst umstrittenen EU-Lieferkettengesetzes gestimmt. Die Ablehnung sei „inakzeptabel“ und eine fatale Fehlentscheidung, die korrigiert werden müsse, polterte Merz, der die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zu einem Hauptthema seiner Amtszeit erhoben hatte.

Kommentar

Spielregeln entrümpeln

Der Föderalismus galt lange Zeit als fortschrittliche Regierungsform. Doch das in Jahrzehnten gewachsene System muss dringend überarbeitet werden. Es droht, das Land zu ersticken.

Stärker könnte die Zusammenarbeit der staatlichen Ebenen, die Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden, der Föderalismus nicht im Grundgesetz verankert sein. Ebenso wie der Artikel eins – die Würde des Menschen ist unantastbar – darf an der Organisation des deutschen Staates als Bundesstaat nicht gerüttelt werden. Niemand kann den Föderalismus in Deutschland abschaffen. Das hat natürlich mit der Geschichte zu tun, dem Umstand, dass Deutschland lange Zeit als munterer Flickenteppich kleinerer Fürstentümer existierte und dass die Nazis die föderale Ordnung der Weimarer Zeit zerschlugen, die Landtage auflösten und die Länder staatsrechtlich zu Verwaltungsbezirken degradierten, um einen einheitlichen Führerstaat zu schaffen.

Wenn nun in der Bundesregierung und in einer Kommission an einer grundlegenden Reform des Föderalismus gearbeitet wird, ist dabei immer klar, dass es den Föderalismus an sich auch noch nach der Reform geben wird. Was auch immer dabei herauskommt, einen zentralistisch organisierten Staat wie beispielsweise Frankreich wird es nicht geben. Und trotzdem ist es etwa zwanzig Jahre nach der jüngsten Föderalismusreform an der Zeit, die Spielregeln der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und den Ländern untereinander zu überdenken.

Der Bedarf ist riesig. So listete das ifo-Institut gerade eben über 500 unterschiedliche Sozialleistungen auf Bundesebene auf, die allerdings in sehr vielen Fällen durch die Länder oder die Kommunen ausgeführt werden müssen. Die Länder verfügen selbstverständlich noch über eigene Sozialleistungen. Es ist nicht nur unmöglich, die Wirkung dieser Leistungen zu beurteilen. Der Normenkontrollrat hält diese Aufgabenzersplitterung an sich für schädlich, weil es dadurch ungeheuer schwierig ist, ähnliche Aufgaben und Leistungen zusammenzufassen und einheitlich zu behandeln.

Auf der anderen Seite gilt das Versprechen, dass die Länder voneinander lernen, eigentlich nicht mehr. Das kann man in der Bildungspolitik erkennen, wo manche Länder durchgehend gute Ergebnisse erzielen und manche Länder eben nicht. Die Schlechtesten könnten sich ja an den Besten orientieren und sich deren Konzepte zu eigen machen. Das geschieht aber nicht. Genauso wie es keine Vereinheitlichung beim digitalen Handwerkszeug der Verwaltung gibt. Auf Gemeindeebene kommen derzeit über 10.000 verschiedene Systeme zum Einsatz. Aussicht auf Besserung: eher schlecht. Alleine über eine Vereinheitlichung der Software in den Steuerbehörden und Finanzämtern wird seit einem Vierteljahrhundert erfolglos beraten.

Eine Reform, mit der all diese Missstände beseitigt oder zumindest gelindert werden könnten, wäre zwingend notwendig – auch um den Landesparlamenten wieder mehr Spielraum und damit Legitimation zu verleihen. Viele sagen, Digitalisierung hilft da weiter. Das ist richtig, aber nur bedingt. Denn es bringt nichts, Vorgänge zu digitalisieren, die auch dann noch kompliziert, verworren und undurchsichtig sind. Die Reform muss also beides können, vereinfachen und dann digitalisieren.

leitartikel@swp.de

Kommentar

Debatte nicht zu Ende

Friedrich Merz hat endlich erklärt, wen genau er als „Problem“ im Stadtbild sieht. Trotzdem hat seine Aussage bleibenden Schaden hinterlassen.

Er hat es nicht so gemeint. Bundeskanzler Friedrich Merz hat nun erklärt, an wen er dachte, als er im Zusammenhang mit Migration von einem „Problem“ im Stadtbild sprach. Es sei ihm nur um Migranten ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht gegangen, die sich nicht an deutsche Gesetze hielten, erläuterte der Kanzler. Es waren somit nicht, wie es viele verstanden haben wollten, alle Migranten gemeint.

Also alles halb so wild? Leider nicht. Denn die aufgeheizte Stadtbild-Debatte hat langfristige Schäden hinterlassen: Verletzungen auf der einen, Schadenfreude auf der anderen Seite.

Einigen der linken Kritiker kann man wohl zu Recht vorwerfen, Merz absichtlich missverstanden zu haben. Doch neben den strategischen Falschverstehern sollte man nicht den Anteil derer unterschätzen, die nicht politisch getroffen waren – sondern persönlich. 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. Und viele kennen Diskriminierung aus ihrem Alltag. Wenn sie sich fragen, ob andere sie als „Problem“ sehen, dann ist das kein absichtliches Missverstehen. Sondern eine Folge von biografischen Wunden, in die Merz nun einmal mehr gestochen hat.

Merz‘ Klarstellung kommt auch zu spät, um die Schadenfreude der Rechten aufzuhalten. Auch sie hatten ein Interesse daran, den Kanzler in ihrem Sinne misszuverstehen. Ihr Programm beruht schließlich darauf, Migranten als Problem zu sehen – und zwar so grundsätzlich, wie man es in die Stadtbild-Aussage reinlesen konnte.

Darf man nun gar nichts mehr sagen? Natürlich darf man das. Aber wenn man dabei falsch verstanden wird, sollte man sich schnell erklären. Worte können mächtig sein. Auch die, die man nicht sagt.

Banges Warten auf die Chips aus China

Elektronik Der Halbleiter-Mangel wegen Lieferproblemen beim Produzenten Nexperia bedroht auch die deutsche Autobranche. Bundesregierung und Unternehmen suchen nach Lösungen.

Berlin. Die Lage bleibt heikel – auch wenn es am Donnerstag so aussah, als könnte der drohende Produktionsstopp bei Volkswagen (VW) doch noch abgewendet werden. Der Ausfall stand kurz bevor, weil dem Autobauer wegen der Lieferprobleme beim Halbleiter-Produzenten Nexperia notwendige Chips für die Produktion fehlen. Laut einem Bericht im „Handelsblatt“ verhandelt VW nun aber mit einem alternativen Lieferanten.

Abgewendet ist die Halbleiterkrise damit aber noch nicht. Das Problem geht weit über VW hinaus. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) betont, Nexperia sei „ein wichtiger weltweiter Großlieferant von Halbleitern, die beispielsweise häufig in elektronischen Steuergeräten von Fahrzeugelektroniksystemen zum Einsatz kommen, die aber auch für andere Branchen relevant sind“, wie VDA-Präsidentin Hildegard Müller erklärt. Werde die Lieferunterbrechung von Nexperia-Chips nicht kurzfristig behoben, könne das „schon in naher Zukunft zu erheblichen Produktionseinschränkungen, gegebenenfalls sogar zu Produktionsstopps führen“.

Nexperia hat 25.000 Kunden

Die Vorkommnisse zeigen, wohin die Abhängigkeit von China führen kann. Die Nexperia-Mutter Wingtech, an der der chinesische Staat beteiligt ist, hat nach eigenen Angaben mehr als 25.000 Kunden, darunter namhafte internationale Unternehmen aus den Bereichen Automobil, Kommunikation, Konsumgüter und Industrie. Offenbar auf Druck der USA hatte die niederländische Regierung die Regie bei Nexperia übernommen, worauf Peking prompt reagierte. Denn obwohl Nexperia auch in den Niederlanden und in Hamburg produziert, erfolgen einige Fertigungsschritte immer auch in der Volksrepublik – die nun aber das Endprodukt nicht mehr ausliefert.

Und wie reagiert die Bundesregierung? Man sei im engen Austausch „mit der Industrie, mit unseren europäischen Partnern, mit der Kommission und auch mit der chinesischen Regierung“, sagte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums. Außerdem lud das Ministerium Industrievertreter zu einer Krisensitzung ein. Laut Informationen des „Handelsblatts“ habe man sich unter anderem darauf geeinigt, dass die Branche daran arbeiten müsse, Nexperia-Chips besser zu ersetzen. Darüber hinaus wolle die Bundesregierung zwischen China, den Niederlanden und den USA vermitteln, um den Konflikt zu entschärfen.

Unionsfraktionsvize Sepp Müller forderte weitere Konsequenzen. „Wir müssen uns generell viel stärker auf die heimische Produktion konzentrieren“, sagte der CDU-Politiker dieser Redaktion. „Deutschland braucht eigene Chipfabriken.“ Der aktuelle Engpass sei absehbar gewesen, so Müller. „Deshalb müssen wir beim Aufbau unserer Halbleiterproduktion deutlich mehr Tempo machen. Wenn es dafür Ausnahmen in der Bauordnung braucht, sollten wir sie ernsthaft prüfen.“

„Verrat am Vaterland“?

Parteien Kleine Anfragen für den Kreml? Das werfen zahlreiche Politiker der AfD vor. Experten halten das Fragerecht für zentral.

Berlin. Spioniert die AfD mit ihren parlamentarischen Anfragen für den Kreml? Diesen schwerwiegenden Vorwurf erhob der Thüringer Innenminister und SPD-Landeschef Georg Maier in dieser Woche – und erhielt direkt Unterstützung von Marc Henrichmann (CDU), dem Vorsitzenden des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag, der „krasse Indizien“ dafür sieht, sowie vom Grünen-Politiker Konstantin von Notz. Unionsfraktionschef Jens Spahn sprach von einem möglichen „Verrat an unserem Vaterland“.

Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke kochte vor Wut, sprach von Verleumdung. Er will rechtliche Schritte gegen Maier prüfen. Was ist dran an den Vorwürfen der Spionage?

Das Thüringer Innenministerium verwies auf Anfrage dieser Zeitung auf acht kleine Anfragen der AfD-Landtagsfraktion, die bei Maier dessen Verdacht ausgelöst haben. In diesen geht es durchaus um heikle sicherheitsrelevante Themen, zum Beispiel Militärtransporte durch Thüringen, die operative Drohnenabwehr, die IT-Sicherheit der Kommunalverwaltung oder den Zustand der Brücken. Informationen, die der Kreml sicherlich interessant findet. Nur: legitimerweise die Opposition ebenso. Und die Informationen sind nicht geheim.

„Das parlamentarische Frage- und Informationsrecht ist ein grundlegendes Recht des Parlaments und der Abgeordneten, das von der Verfassung geschützt wird“, sagt der Oldenburger Staatsrechtler Volker Boehme-Neßler dieser Zeitung. Das Parlament solle ja die Regierung kontrollieren, das könne es aber nur, wenn es sich die dafür nötigen Informationen beschaffen kann.

„Ohne das Fragerecht können die Abgeordneten ihren Job nicht ordentlich machen“, sagt Boehme-Neßler. Deshalb dürfe die Regierung nur in ganz wenigen Ausnahmefällen Antworten verweigern. „Dass der Innenminister in Thüringen versucht, dieses Recht durch Spionagevorwürfe zu diskreditieren und einzuschränken, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst problematisch“, findet der Oldenburger Staatsrechtler. Die Regierung habe kein Recht, dem Parlament und den Abgeordneten vorzuschreiben, was sie fragen dürften und was nicht.

Mit Blick auf das Strafrecht lässt sich festhalten, dass der Vorwurf der Spionage nur gegen einzelne Personen erhoben werden kann, nicht gegen eine ganze Partei. Laut Paragraf 99 Strafgesetzbuch macht sich strafbar, wer „den Geheimdienst einer fremden Macht“ mit Informationen versorgt, die im Gesetz als „Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse“ definiert werden.

Wichtig mit Blick auf die AfD ist, dass es sich dabei nicht um geheime Informationen handeln muss. Gleichzeitig reicht ein naheliegendes Interesse eines anderen Staates an den Informationen nicht aus, um von Spionage zu sprechen. Es muss nachgewiesen werden, dass es eine direkte Verbindung zum Geheimdienst gibt.

Auf China und Indien kommt es an

Berlin. Die Wirksamkeit der US-Sanktionen gegen die russischen Ölkonzerne Rosneft und Lukoil hängt nach Einschätzung des Wissenschaftlers Janis Kluge von der Durchsetzung bei den Ölimporteuren Indien und China ab. Politisch sei es ein großer Schritt, dass Präsident Donald Trump erstmals Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt habe, sagte der Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Die Beziehung zwischen Trump und Kremlchef Wladimir Putin trete damit in eine neue Phase. „Es ist vorbei, dass Putins Verhalten keine Konsequenzen hat“, sagte Kluge der Deutschen Presse-Agentur. Bei aller Sprunghaftigkeit Trumps sei zu erwarten, dass er von den Sanktionen erst abrücken werde, wenn Putin Kompromissbereitschaft für ein Ende des Ukraine-Kriegs zeige.

Preisabschläge für russisches Öl

Durch die Maßnahmen gerate der Export russischen Öls ins Ausland weiter unter Druck, sagte Kluge. „Die Käufer müssen entscheiden, ob sie weiter Öl bei diesen Unternehmen kaufen.“ Allerdings seien bei den russischen Firmen Gazpromneft und Sugutneftegaz, die im Januar noch von US-Präsident Joe Biden sanktioniert wurden, Förderung und Export nicht spürbar gesunken.

Zu erwarten sei allerdings, dass Rosneft und Lukoil höhere Rabatte gewähren müssen. „Die Marge sinkt.“ Große Importeure wie Reliance Industries in Indien müssten das Risiko abschätzen, selbst von sekundären US-Sanktionen getroffen zu werden. Für finanzierende Banken gebe es das Risiko, von Geschäften in US-Dollar ausgeschlossen zu werden. „Entscheidend ist die Erwartung, ob Sanktionen durchgesetzt werden“, sagte Kluge. In China sei der Respekt vor den US-Strafmaßnahmen zuletzt gesunken. Indien sei leichter unter Druck zu setzen. „Es könnte ein Signal sein, dass Trump es jetzt ernst meint.

Unklarheit für Europa

Noch unklar sei, wie es mit Tochterfirmen von Lukoil und Rosneft in Europa weitergehe, sagte Kluge. Lukoil betreibt in Rumänien und Bulgarien Hunderte Tankstellen sowie je eine Raffinerie. Trump hatte sein Finanzministerium angewiesen, die Sanktionen in Kraft zu setzen nachdem er auch das ursprünglich geplante Gipfeltreffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin in Budapest wieder abgesagt hatte.

Beim Treffen mit Nato-Generalsekretär Marc Rutte ließ der US-Präsident deutliche Ernüchterung erkennen, was Putins Bereitschaft angeht, den Krieg in der Ukraine zu beenden, auch das allerdings nicht zum ersten Mal: „Jedes Mal, wenn ich mit Wladimir spreche, führe ich gute Gespräche, die dann aber zu nichts führen“, sagte Trump. „Sie führen einfach zu nichts.“

Ukraine-Krieg Die neuen US-Sanktionen gegen Russland werden weltweite Auswirkungen haben.

Peking willselbständigerwerden

Peking. Chinas Kommunistische Partei will die technologische Eigenständigkeit und den Binnenmarkt als Schwerpunkte der Wirtschaftspolitik weiter stärken. Das geht aus dem Abschlusskommuniqué des vierten Plenums des 20. Zentralkomitees hervor, das vier Tage lang in Peking tagte. Bei der Sitzung legte die Parteiführung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping die Leitlinien für den kommenden Fünfjahresplan fest, der die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von 2026 bis 2030 bestimmen soll.

Die Partei ruft darin dazu auf, die „technologische Selbstständigkeit und Eigenstärkung“ zu beschleunigen. Damit soll der Aufbau neuer, innovationsgetriebener Industrien vorangetrieben werden. China soll sich zu einer „starken Industrienation“ entwickeln, neue Technologien und Zukunftsbranchen ausbauen und die Wettbewerbsfähigkeit traditioneller Industrien steigern.

Gleichzeitig soll der Binnenmarkt des Landes gestärkt und die inländische Nachfrage erweitert werden, um die Wirtschaft stärker auf den heimischen Konsum zu stützen.

Der Schwerpunkt auf technologischer Eigenständigkeit und Binnenwachstum folgt einem wirtschaftspolitischen Kurs, den Peking bereits seit Jahren verfolgt. Hintergrund sind dabei auch zunehmende internationale Handels- und Technologiebeschränkungen, insbesondere durch die USA.

„Das doppelte Wunder“

Chinas Wirtschaft soll laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua „rapide“ wachsen und die nationale Sicherheit gestärkt werden. Laut Xinhua heißt es, die Zeit sei von „wachsender Unsicherheit und unvorhersehbaren Faktoren“ geprägt. Die Partei wolle „mutig den großen Herausforderungen, starken Winden, hohen Wellen und sogar gefährlichen Situationen begegnen“ und ein neues Kapitel über das „doppelte Wunder der schnellen wirtschaftlichen Entwicklung und der langfristigen sozialen Stabilität“ schreiben.

Der neue Fünfjahresplan soll im März auf der Jahrestagung des Volkskongresses verabschiedet werden.

Fünfjahresplan Die Parteiführung legt die politischen Leitlinien für den Zeitraum 2026 bis 2030 fest.

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