„Wenn ich singe, zählt nur der Moment“

Pop Auf den Spuren von Arno Schmidt: Selig-Frontmann Jan Plewka schrieb während der Pandemie Songs mithilfe eines Zettelkastens. Das so entstandene Solo-Album handelt auch von einem Neuanfang.

Jan Plewka, ist vor allem als Sänger und Songwriter der Band Selig bekannt. Er ist aber zudem auch ein berührender Interpret von Rio Reisers Lieder-Welt und ist nicht selten auch in Theaterproduktionen oder Filmen zu erleben. Mit seinem jüngsten Tonträger „Eine Art Solo-Album“ hat er sich nur einen Traum erfüllt und wandelt als Songwriter mit melancholischem Ton in den großen Spuren des solitären Schriftstellers Arno Schmidt. Mit der SÜDWEST PRESSE sprach er über das Werk.

Wie begannen Sie die Arbeit an Ihrem Album mit dem Titel „Eine Art Solo-Album“?

Jan Plewka: Ich schreibe Text- und Lyrik-Traumtagebücher seit ich 15 Jahre alt bin. Ich habe sie auch immer gesammelt und zu Hause eine ganze Regalwand voll mit diesen Notiz- und Skizzenbüchern. Während der Pandemie hatte ich Zeit, sie durchzugehen. Ich schrieb Zeilen, die mir besonders gut gefielen, auf Schnipsel, und hatte am Ende, Abrakadabra, eine Kiste voll mit 22.000 lyrischen Zeilen, die selbst erträumt, erdacht oder auch irgendwo geklaut waren.

Was geschah damit?

Jeden Morgen zog ich als künstlerisches Ritual 30 dieser Schnipsel wahllos aus der Kiste, heftete sie an eine Wand, und schob sie so lange herum, bis daraus eine Geschichte oder ein Sinn entstand. So ist täglich mindestens ein kleines Lied auf Basis dieser plewkaesken Wortspiele entstanden. Darauf basierte dann auch mein Instagram-Projekt Schnipsel-Makramee. An 111 Tagen hintereinander hab ich jeweils ein Schnipselmusikstück veröffentlicht. Nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit meinen Texten schrieb ich dann die Songs für das Album.

Gleichzeitig wurden Sie aber auch wieder zum Maler.

Ich war ja auf einer Schule für Grafik und Gestaltung, und die Malerei war immer Teil meines Lebens, doch der Musik gehörte die Priorität. Als während der Pandemie die große Stille um mich herum war, öffnete sich dieser kreative Raum. Ich muss mich ausdrücken, sonst werde ich einfach verrückt. Also fing ich an zu malen.



Wie darf man sich das vorstellen?

Zu den aus Schnipseltexten geformten Liedern malte ich Arbeiten im Typo-Art-Stil und Gemälde im Postkartenformat auf Pappen. Das Demo des jeweiligen Lieds wurde hinten mit QR-Code draufgeklebt und verkauft. In der Hoffnung, mir mit dem so eingenommenen Geld die unabhängige Produktion eines Soloalbums leisten zu können — ganz ohne Kompromisse machen zu müssen. Es ist mir gelungen. Es war wie eine Fügung, die alles ineinanderfließen fließ.

Sie haben fünf Jahre an diesem Album gearbeitet. Da braucht man einen langen Atem.

Und Leidenschaft! Ich bin ja in verschiedenen Kosmen unterwegs: mit Selig, im Duo mit Marco Schmedtje oder mit den Rio-Reiser-Songs. Auf meinen Soloplaneten bin ich genau dort, wo ich sein will. Auch dank der Malerei, gibt es, wenn ich auf der Bühne stehe und singe, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es zählt nur der Moment. Die Kunst ist für mich die Droge, die zur Freiheit führt.

Der Neuanfang des Jan Plewka durchzieht ja auch die Texte der Songs und Chansons.

Das exzessive Leben hinter mir zu lassen, um mein Leben zu retten, fühlte sich wie Liebeskummer an. Deshalb schwingt auf dem Album auch einiges an Melancholie mit. Aber es ist ein großartiges Gefühl, etwas Schönes entstehen zu lassen und etwas zu formen, das eine Sinnlichkeit in die Welt schickt.

Wie kam es zu den musikalischen Gästen?

Es hat sich wie von selbst ergeben, dass diese wundervollen und ikonischen Frauen den Bogen auf meinem Soloalbum spannen. Von Marianne Rosenberg bin ich Fan, seit ich ihr das erste Mal begegnet bin. Das Duett mit ihr war der erste Schritt. Lina Maly habe ich bei der Gala zum 88. Geburtstag von Wolf Biermann im Thalia Theater elfengleich erleben dürfen. Ich habe sie noch am selben Abend gefragt, ob sie mit mir das Duett in „Die schlaksige Windin“ singen würde. Von Mieze Katz, der Sängerin der Band Mia, war ich schon immer begeistert. Und meine Frau Anna ist auch erstmals in einem meiner Songs zu hören.

Wie sehr haben Sie sich für das Album als Sänger gewandelt?

Ich habe die leisen Töne zugelassen, in den Stücken und beim Gesang. Und dank eines Engagements am Théâtre National du Luxembourg begann mich der französische Chanson zu faszinieren. Ich spürte sofort, dass dies eine Musik ist, die mir, meiner Seelenlage und meinem Alter entspricht. Und ich wollte das auf Deutsch versuchen.

Wie sind Sie das angegangen?

Die Musik sollte sehr organisch klingen, aber auch ein bisschen im Hintergrund stehen, damit die Stimme ganz nahe hinterm Ohr ist, als würde ich Intimitäten ins Ohr flüstern. So habe ich die Ruhe in mir und in meiner Stimme kennengelernt.

Die Herangehensweise mit den Schnipseln erinnert ein klein wenig an Arno Schmidts backsteinschweres Werk „Zettels Traum“.

Arno Schmidt hat so viele Begriffe für den Mond geprägt, dass man einen Krater nach ihm benennen sollte! Irgendwie stand er bei diesem Album Pate da oben und ich hoffe, er blickt nicht zu grimmig auf das hinunter, was ich, von ihm inspiriert, geschaffen habe.

Lyrik zu schreiben ist das eine, Songtexte daraus zu machen doch ganz anders. Wie gelang das mit den Schnipseln?

Die Magie und die Fügung lassen alles von alleine passieren. Und dann sind da diese Gänsehautschauer und seismografischen Gefühle und ich weiß: Jetzt stimmt es und ist nun unumstößlich.

Besser, am besten, bestialisch

Schauspiel Stuttgart Tina Lanik blickt in ihrer Inszenierung von „Wer hat Angst vor Virginia Woolf…?“ in dunkle Ehe-Abgründe.

Stuttgart. „Es war furchtbar. Es war auch komisch, aber eigentlich war‘s furchtbar.“ Etwa so lässt sich der Klassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf…?“ (1962) von Edward Albee beschreiben. Das Drama gilt als die grausamste und promillehaltigste aller Eheschlachten. Ein Paar zerfleischt sich – und wir schauen zu. Ein Schauerstück. Geht sowas heute noch?

Nun hatte der Albee-Text Premiere am Schauspiel Stuttgart. Tina Lanik führt Regie – ohne die ollen Klischees. Obwohl es im Original mit viel Bourbon und Kraftausdrücken zur Sache geht, verzichtet sie weitgehend auf Getorkel, Gebrüll und Gelalle. So rettet sie den Text fürs Heute und zeigt im Schauspielhaus seine Schärfe: zwei Menschen, die sich beleidigen, demütigen, verhöhnen. Quälerei als Endspiel auf den Trümmern einer Liebe? Lanik zerlegt das Stück in kurze Szenen, indem ein beweglicher Neonrahmen stets neu formatierte Ausschnitte aus der Ehehölle umreißt – wie ein von Geisterhand bewegter Kamerazoom.

Die Hauptfiguren, die hier ihre Lebenslügen ausbreiten, heißen George und Martha, wie die Washingtons, das erste Präsidentenpaar. Und so lässt sich das Ganze auch wie ein illusionsloser Blick auf den vielzitierten „American Dream“ lesen. Die Regie blickt eher auf den Kampf zweier verletzter Seelen. Sylvana Krappatsch gibt ihrer manipulativen Martha fast etwas spielerisch Bockiges, wenn sie zwischen Verbalattacken wie „Du kotzt mich an“ auch mal mit einem kurzen Kopfstand ihre Sicht der Dinge vorführt. Martha, ob im Goldglanzkleid oder in violetter Königinnenrobe mit Schärpe, macht auf schnoddrige Tyrannin, stellt ihren Gatten George als „Versager“ bloß und flüchtet sich in die Fiktion eines gemeinsamen Sohns.

Famos absurdes Theater

George, ein Geschichtsprofessor, glänzt bei Matthias Leja mit lässiger Brillanz und ätzendem Zynismus: Seine Steigerung von „gut“ lautet „besser, am besten, bestialisch“. So beschwört er als Exorzist mit Requiem-Zitaten den Tod des Fantasiesohns – Therapie und Teufelsaustreibung, bei Lanik famos absurdes Theater.

In dieser grandiosen Hass-Show der Giftspritzen Martha und George bleibt ihren Gästen oft nur der Zuschauerpart. Doch scheint auch beim jungen Bio-Prof Nick (Peer Oscar Musinowski) und seiner traumatisiert saufenden Frau (Teresa Annina Korfmacher) einiges nicht zu stimmen. Nur einmal tanzen die Vier – zu „Bette Davis Eyes“. Was bleibt? Eine der besten Arbeiten am Schauspiel Stuutgart seit langem, durchdacht abgründig inszeniert und beklemmend gut gespielt.

Info Wieder am 1., 11., 15., 25. und 29. November sowie am 17. und 31. Dezember. Karten auf schauspiel-stuttgart.de.

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