An die Spitze gefressen

Reutlingen Das Kreisarchiv kürte das „Archivwort des Jahres“. Die Wahl fiel auf ein winziges Insekt, das gerade den Umzug ins neue Landratsamt erschwert.

Im Reich der Akten regt sich was. Winzige Schatten huschen durch Regalreihen, von Akte zu Akte. Unsichtbar fast, aber mit großem Appetit. Sie heißen Papierfischchen – und sind in diesem Jahr zu einem kuriosen Teil des Arbeitsalltags im Reutlinger Kreisarchiv geworden. Das hinterlässt noch immer Eindruck - und vor allem viel Arbeit bei den Mitarbeitenden des Archivs: Sie haben den Namen des unscheinbaren Insekts deshalb gleich zum Archivwort des Jahres 2025 gekürt.

Damit rückt ein Wesen in den Fokus, das Archivare weltweit eigentlich lieber nie zu Gesicht bekommen würden. Papierfischchen ähneln den bekannten Silberfischchen, die man in Badezimmern antreffen kann. Doch während diese Feuchtigkeit lieben, bevorzugen ihre papierfressenden Verwandten trockene Räume – genau jene, in denen Dokumente, Bücher und Fotos eigentlich sicher lagern sollen.

„Für uns sind sie eine reale Bedrohung“, sagt Kreisarchivleiter Dr. Marco Brin. „Papierfischchen können historische Unterlagen, Klebebindungen und Einbände beschädigen. Das klingt banal, kann aber über Jahrzehnte erhebliche Spuren hinterlassen.“ Die Insekten, nur wenige Millimeter groß, ernähren sich vom Zellstoff des Papiers. Ihr Körper ist länglich, glänzend, und sie bewegen sich erstaunlich schnell.

Aufgefallen war der Befall beim Öffnen einer einzigen Akte, wie Janina Humbs, Leiterin der Zentralregistratur des Kreisarchivs, erzählt. Das Fischchen sei an diesem Tag im Frühling herausgefallen aus der Akte - und dann war klar, dass der Befall vorliegt. Weil der Kampf gegen die Fischchen die Mitarbeitenden noch immer beschäftigt, konnte sich der Name des Insekts bei der Wahl um Archivwort wohl durchsetzen.

Und zwar gegen zwanzig andere Fachwörter – darunter etwa „Dickität“, ein Ausdruck aus der Papierkunde, der tatsächlich die Dicke oder den Umfang einer Akte beschreibt. Das Archivwort orientiert sich am bekannten Jugendwort des Jahres und soll Archivarbeit sichtbar machen. Zum zweiten Mal in Folge hat das Kreisarchiv Reutlingen den Titel vergeben. Im vergangenen Jahr wurde „Aktenautopsie“ gewählt - ein Begriff, der den Vorgang beschriebt, wenn Akten vor Ort stichprobenartig durchgesehen werden.

Die Idee hinter der Aktion: Archive als lebendige Orte zeigen, nicht als staubige Keller. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kreisarchivs verstehen ihre Arbeit als Teil des kulturellen Gedächtnisses der Region.

Das Papierfischchen steht fast schon sinnbildlich für die alltäglichen Herausforderungen, denen Archive begegnen. Aber wie kommt ein Schädling überhaupt in die Bestände? Eine gängige Theorie lautet, dass die Insekten mit Verpackungen oder Baumaterialien eingeschleppt werden. Besonders in Neubauten, wo es warm und trocken ist, fühlen sie sich wohl. Sind sie erst einmal da, hilft wie im Falle des Reutlinger Kreisarchivs nur noch ein Experte.

Experte muss Akten einfrieren

Der kommt aus Römerstein und wird sich daran machen, rund 200 Umzugskartons, die von den Schädlingen befallen sind, wieder von ihnen zu befreien. Das funktioniert, indem die Akten zunächst in einem sorgfältigen Prozess eingefroren werden - um die Insekten abzutöten, damit die Akten künftig auch wieder der Öffentlichkeit zugänglich werden.

„Archive sind für alle da“, betont Leiter Marco Birn. „Einerseits als Forschungsgrundlage für heutige und zukünftige Historikerinnen und Historiker. Andererseits steht unsere Türe allen Bürgerinnen und Bürgern offen.“

Anfragen per Mail an das Kreisarchiv gebe es jede Woche mehrfach, betont der Leiter. Seit einiger Zeit schon bemüht sich das Archiv deshalb, den Kontakt zu suchen. Etwa über die Archivsprechstunde - bei der nächsten soll es um Heraldik und Wappenkunde gehen. Wer hingegen so gar keine Ahnung hat, wo die Recherche losgehen soll, für den ist der „Kaffee mit Archivarin“ am 19. November ein sinnvoller Termin: Hierbei nimmt sich der Kreisarchivleiter Zeit, Einzelpersonen bei der Familienforschung zu beraten. Die Veranstaltungen und weitere Infos finden sich auf www.kultur-machen.de.

Hochmoderne Archivierung

Die Jugendagentur soll auch im neuen, fünfeckigen Landratsamt die Nachbarin des Kreisarchivs bleiben. Ansonsten muss erstmal eine neue Zentralregistratur her. Denn die ist unersetzlich für das „Wissensmanagement“ des Kreisarchivs. Aktuell erfassen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Akten, die im neuen Landratsamt wesentlich unproblematischer herausgesucht werden können.

Dafür werden die Akten aktuell mit scannbaren Codes versehen. Das ist wichtig, denn die Aktenschlange im neuen Archiv wird insgesamt ganze zehn Kilometer lang sein. Am Ende soll die gewünschte Akte dann in einem smarten Schrank landen, in dem Interessierte die Akte dann entgegennehmen können. Janina Humbs definiert das Ziel wie folgt: „Die Suche soll sich am Ende auf einen Meter beschränken und nicht auf zehntausend.“

Zwischen Mensch und Maschine in der Psychiatrie

Reutlingen Rund 200 Fachleute diskutierten bei der 35. Psychiatrischen Ethiktagung über Chancen und Risiken von KI, Robotik und Online-Therapie in der psychiatrischen Versorgung.

Unter dem Titel „Digitale Transformation in der Psychiatrie – Möglichkeiten und Grenzen“ fand am Welttag der Seelischen Gesundheit die 35. Psychiatrische Ethiktagung des ZfP Südwürttemberg und der PP.rt Reutlingen statt. Rund 200 Fachleute diskutierten in Reutlingen über Chancen und Risiken digitaler Technologien in der psychiatrischen Versorgung.

„Psychiatrische Versorgung bemüht sich um Menschen – sie steht mitten im Leben und muss zugleich in einer zunehmend digitalen Welt eine ethisch reflektierte Handlungsweise finden“, eröffnete Prof. Dr. Gerhard Längle, Geschäftsführer der PP.rt und Regionaldirektor im ZfP Südwürttemberg die Veranstaltung. Digitale Hilfsmittel wie Robotik, KI und Online-Therapieformate böten Chancen, dürften aber die zwischenmenschliche Beziehung nicht ersetzen. Ziel der Tagung sei es, verantwortungsvolle Einsatzmöglichkeiten auszuloten und Transparenz über digitale Hilfen zu schaffen.

Einen anschaulichen Einstieg bot die Vorstellung des empathischen Kommunikationsroboters „Navel“ durch Dr. Hubertus Friederich, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik Alb-Neckar, sowie den Pflegerischen Direktor Ralf Aßfalg. Das System kann Gespräche führen, Emotionen erkennen und zur Aktivierung anregen – soll aber menschliche Pflegekräfte nicht ersetzen. Ein sechsmonatiger Testlauf auf zwei gerontopsychiatrischen Stationen am ZfP-Standort Zwiefalten ist geplant. „Die zwischenmenschliche Beziehung bleibt unverzichtbar“, so Aßfalg. Friederich erinnerte daran, dass der Einsatz solcher Technologien stets an den „Prinzipien der Biomedizinischen Ethik“ gemessen werden müsse: Respekt vor Autonomie, Wohltun, Nichtschaden und Gerechtigkeit.

Roboter in der Pflege

Julia Kämmer von der Katholischen Stiftungshochschule München stellte das Forschungsprojekt SMiLE2getherGaPa vor, das gemeinsam mit Pflegefachkräften praxisnahe Einsatzmöglichkeiten für robotische Assistenzsysteme entwickelt. Psychotherapeutin Leonie Bauer präsentierte aktuelle Erkenntnisse zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs). Diese böten flexible Therapieformen mit geringen Zugangshürden, erforderten jedoch sorgfältige Prüfung von Wirksamkeit, Datenschutz und Haftungsfragen.

Dr. Frank Schwärzler, Ärztlicher Leiter der PP.rt Reutlingen, hob hervor, dass Empathie das Herz jeder therapeutischen Beziehung bleibe und nicht programmierbar sei. KI könne empathisches Verhalten simulieren, aber menschliche Begegnung nicht ersetzen. „Gerade angesichts eines drohenden Fachkräftemangels ist es verlockend, auf KI zu setzen – doch Datenschutz und ethische Verantwortung dürfen dabei nicht aus dem Blick geraten“, so Schwärzler.

Auch innerhalb des ZfP Südwürttemberg wird an digitalen Lösungen gearbeitet: Dieter Haug, Leiter des Zentralbereichs Verwaltung und Zentrale Dienst, und IT-Leiterin Angelika Gasser zeigten, wie interne KI-Systeme zur Wissensorganisation beitragen sollen. Ein lokal betriebener Chatbot könne künftig Wissen zugänglich machen, ohne Datenschutzrisiken zu erhöhen. Voraussetzung sei eine offene Unternehmenskultur und ein klar geregeltes Datenschutzkonzept.

In Workshops diskutierten die Teilnehmenden anschließend über digitale Therapieformate, robotische Pflegeunterstützung und ethische Fragen der Automatisierung. „Gerade in der Psychiatrie müssen wir genau hinsehen, wo Technik echte Hilfe leistet – und wo sie das Miteinander verändert“, fasste Uwe Armbruster, Pflegedirektor der PP.rt und Moderator der Tagung, den Tenor zusammen. Zum Abschluss betonte Prof. Längle: „Es geht nicht um Fortschritt um jeden Preis, sondern um eine verantwortungsvolle Integration neuer Möglichkeiten in eine humane Psychiatrie.“

Protestzug durch die Innenstadt

Gesellschaft Kritikerinnen und Kritiker der Regierung zogen am Samstag durch die Innenstadt. Das Polizeiaufgebot war groß.

Reutlingen. Fahnen mit Friedenstauben und Deutschlandfarben, ein Mann im Superman-Kostüm, ein anderer mit Bundeswehrhelm – so zeigte sich ein Protestzug der Initiative „ichmachdanichtmit“ am Wochenende in der Innenstadt. Rund 300 Menschen nahmen laut Polizei teil, weniger als 100 beteiligten sich an einer Gegendemonstration.

Die Gruppe, die bereits seit der Coronapandemie in Reutlingen Demonstrationen anmeldet, wollte ihren Unmut kundtun wegen eines angeblichen Überwachungsstaates, der aus Sicht der Teilnehmenden drohenden Abschaffung des Bargelds und wegen Waffenlieferungen in die Ukraine. Die Polizei war mit einem Großaufgebot in der gesamten Innenstadt vertreten, darunter auch eine Reiterstaffel. Beide Kundgebungen verliefen laut Polizei friedlich und wurden zeitlich sowie räumlich getrennt.

Bei früheren Protesten der Szene in Reutlingen hatten sich – abseits der AfD-Beteiligung – einzelne Rechtsextreme unter die Teilnehmenden gemischt. Das Organisationsteam hatte daraufhin erklärt, künftig aktiver auf den Ausschluss solcher Teilnehmer hinzuwirken. Beim Protestmarsch am Wochenende fiel lediglich ein Mann mit einem Shirt der rechtsextremen Partei „Freie Sachsen“ auf (entsprechendes Bildmaterial liegt der SÜDWEST PRESSE vor).

Im Vorfeld hatte außerdem Christoph Barth, ein zentraler Akteur der verschwörungsideologischen Szene im Rhein-Main-Gebiet, für die Veranstaltung geworben. Seit Beginn der Coronapandemie organisierte er Kundgebungen und Proteste gegen staatliche Maßnahmen und etablierte Medien. Mit der von ihm verantworteten „Bürgerzeitung Klartext“ schuf er ein Sprachrohr für ein Milieu, das sich selbst als basisdemokratisch und regierungskritisch versteht, tatsächlich jedoch häufig rechtspopulistische und verschwörungstheoretische Narrative verbreitet. Die Zeitung wurde am Samstag auch in Reutlingen verteilt, wo Barth ein lokales Medienhaus wegen „einseitiger Berichterstattung“ kritisierte. Der Reutlinger AfD-Stadtrat Hansjörg Schrade, der in der Vergangenheit in zweiter Instanz wegen Volksverhetzung verurteilt wurde, nahm ebenfalls an der Veranstaltung teil.

Drei Autos kollidieren – alle unverletzt

Unfall Ein riskantes Einfädelmanöver auf der B28 bei Reutlingen hat am Samstag einen Unfall mit drei Autos ausgelöst.

Betzingen. Am Samstagabend, gegen 18.30 Uhr, ist es auf der B28 zwischen den Anschlussstellen Industriegebiet-West und Betzingen zu einem Unfall zwischen drei beteiligten Fahrzeugen gekommen. Der 44-jährige Unfallverursacher wollte vom Beschleunigungsstreifen aus mit seinem Dacia Duster auf die Bundesstraße in Fahrtrichtung Reutlingen einfahren. Hierbei übersah er einen Ford Fiesta, der sich bereits auf der rechten Fahrspur befand. Der 43-jährige Ford-Fahrer, der zusammen mit seiner dreijährigen Tochter unterwegs war, wich auf die linke Fahrspur aus, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Ein auf der linken Spur fahrender Fiat Ducato konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und prallte gegen den Ford, welcher infolge der Kollision in die linke Leitplanke geschoben wurde. Das Fahrzeug schleuderte an den rechten Fahrbahnrand, überschlug sich und kam in der angrenzenden Böschung zur Endlage.

Keine Verletzten vor Ort

Glücklicherweise wurde keiner der Beteiligten verletzt. Die Feuerwehr, welche mit zwei Fahrzeugen ausgerückt war, rettete die Personen aus dem überschlagenen Auto und leuchtete die Unfallstelle aus. Der Rettungsdienst war vorsorglich mit einem Rettungswagen und einem Notarzteinsatzfahrzeug vor Ort. Der Ford musste von einem Abschleppunternehmen geborgen werden, zur Reinigung der Fahrbahn wurde die Straßenmeisterei hinzugezogen. Der Sachschaden wird nach Angaben des Polizeipräsidiums Reutlingen auf eine Gesamtsumme von circa 20.000 Euro geschätzt. Für die Dauer der Einsatzmaßnahmen blieb die B28 in Fahrtrichtung Reutlingen am Samstagabend noch bis 21 Uhr gesperrt.

Brücken bauen in die Arbeitswelt

Arbeit Immer wieder schaffen Beschäftigte aus den Werkstätten der Bruderhaus Diakonie den Sprung in die Arbeitswelt.

Kreis Reutlingen. Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung haben laut Behindertenrechtskonvention ein Recht auf Arbeit. Überwiegend sind sie in Werkstätten tätig – mit der Möglichkeit, sich dort auch zurückzuziehen, wenn es die Gesundheit erfordert. Streben sie einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt an, hilft ihnen in der BruderhausDiakonie ein Jobcoach aus dem Angebot Betriebsintegrierte Arbeit und Bildung, kurz BiA.

Bei einem Praktikum in einem Unternehmen können sich Arbeitnehmer und Job-Interessierte zunächst kennenlernen und die Zusammenarbeit testen. Jobcoaches begleiten diesen Schritt. Sie bereiten Beschäftigte, die sich eignen, auf das Praktikum vor und unterstützen bei der Gestaltung des Praktikumsplatztes. War das Probearbeiten für beide Seiten erfolgreich, kann eine langfristige Beschäftigung folgen, auch tageweise. Seit der Einführung im Jahr 2011 kam es im Landkreis Reutlingen zu mehr als 500 BiA-Praktika. Über 50 Personen gelang der Sprung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Jedes zehnte Praktikum führte somit zu einem sozialversicherungspflichtigen Arbeits- oder Ausbildungsverhältnis.

„Die individuelle Weiterentwicklung unserer Beschäftigten steht bei BiA im Vordergrund“, sagt Michael Schröter, Teamleiter Betriebsintegriertes Arbeiten der BruderhausDiakonie Region Reutlingen. „Wir bedanken uns bei den Betrieben, die ein Arbeitsumfeld schaffen, in dem unsere Praktikantinnen und Praktikanten im Betrieb Fuß fassen können. Manchmal werden dafür extra Abläufe geändert oder Aufgaben anders verteilt. Das ist nicht selbstverständlich. Uns ist klar, dass wir alle in diesem Prozess stark gefordert sind.“ Dank dieses Modells können Menschen mit Handicap ihre beruflichen Interessen identifizieren, Berufe und Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt kennenlernen und sich ihren Fähigkeiten entsprechend qualifizieren. Unternehmen können Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung als Mitarbeitende kennenlernen und im besten Fall langfristig eine Stelle besetzen. Doch nicht jedes Praktikum führt automatisch zum Traumjob. Die Erfahrungen, die am jeweiligen Arbeitsplatz gemacht werden, sind dennoch für die Beschäftigten wichtig, denn sie führen in jedem Fall zu einem Erkenntnisgewinn: Persönliche Stärken und Schwächen werden deutlich und eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten wird möglich.

Unternehmen wenden sich bei Interesse an Michael Schröter, E-Mail an bia@bruderhausdiakonie.de oder telefonisch unter 0151 53834217.

< VORHERIGE SEITE NÄCHSTE SEITE >