An die Spitze gefressen

  • Janina Humbs leitet die Zentralregistratur des Reutlinger Kreisarchivs. Das hat wegen des Umzugs in den Landratsamts-Neubau jede Menge zu tun: 30 Gebäude werden dort in einem vereint. Mathias Grimm
  • Dr. Marco Birn ist Leiter des Kreisarchivs in Reutlingen. Mathias Grimm

Reutlingen Das Kreisarchiv kürte das „Archivwort des Jahres“. Die Wahl fiel auf ein winziges Insekt, das gerade den Umzug ins neue Landratsamt erschwert.

Im Reich der Akten regt sich was. Winzige Schatten huschen durch Regalreihen, von Akte zu Akte. Unsichtbar fast, aber mit großem Appetit. Sie heißen Papierfischchen – und sind in diesem Jahr zu einem kuriosen Teil des Arbeitsalltags im Reutlinger Kreisarchiv geworden. Das hinterlässt noch immer Eindruck - und vor allem viel Arbeit bei den Mitarbeitenden des Archivs: Sie haben den Namen des unscheinbaren Insekts deshalb gleich zum Archivwort des Jahres 2025 gekürt.

Damit rückt ein Wesen in den Fokus, das Archivare weltweit eigentlich lieber nie zu Gesicht bekommen würden. Papierfischchen ähneln den bekannten Silberfischchen, die man in Badezimmern antreffen kann. Doch während diese Feuchtigkeit lieben, bevorzugen ihre papierfressenden Verwandten trockene Räume – genau jene, in denen Dokumente, Bücher und Fotos eigentlich sicher lagern sollen.

„Für uns sind sie eine reale Bedrohung“, sagt Kreisarchivleiter Dr. Marco Brin. „Papierfischchen können historische Unterlagen, Klebebindungen und Einbände beschädigen. Das klingt banal, kann aber über Jahrzehnte erhebliche Spuren hinterlassen.“ Die Insekten, nur wenige Millimeter groß, ernähren sich vom Zellstoff des Papiers. Ihr Körper ist länglich, glänzend, und sie bewegen sich erstaunlich schnell.

Aufgefallen war der Befall beim Öffnen einer einzigen Akte, wie Janina Humbs, Leiterin der Zentralregistratur des Kreisarchivs, erzählt. Das Fischchen sei an diesem Tag im Frühling herausgefallen aus der Akte - und dann war klar, dass der Befall vorliegt. Weil der Kampf gegen die Fischchen die Mitarbeitenden noch immer beschäftigt, konnte sich der Name des Insekts bei der Wahl um Archivwort wohl durchsetzen.

Und zwar gegen zwanzig andere Fachwörter – darunter etwa „Dickität“, ein Ausdruck aus der Papierkunde, der tatsächlich die Dicke oder den Umfang einer Akte beschreibt. Das Archivwort orientiert sich am bekannten Jugendwort des Jahres und soll Archivarbeit sichtbar machen. Zum zweiten Mal in Folge hat das Kreisarchiv Reutlingen den Titel vergeben. Im vergangenen Jahr wurde „Aktenautopsie“ gewählt - ein Begriff, der den Vorgang beschriebt, wenn Akten vor Ort stichprobenartig durchgesehen werden.

Die Idee hinter der Aktion: Archive als lebendige Orte zeigen, nicht als staubige Keller. Denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kreisarchivs verstehen ihre Arbeit als Teil des kulturellen Gedächtnisses der Region.

Das Papierfischchen steht fast schon sinnbildlich für die alltäglichen Herausforderungen, denen Archive begegnen. Aber wie kommt ein Schädling überhaupt in die Bestände? Eine gängige Theorie lautet, dass die Insekten mit Verpackungen oder Baumaterialien eingeschleppt werden. Besonders in Neubauten, wo es warm und trocken ist, fühlen sie sich wohl. Sind sie erst einmal da, hilft wie im Falle des Reutlinger Kreisarchivs nur noch ein Experte.

Experte muss Akten einfrieren

Der kommt aus Römerstein und wird sich daran machen, rund 200 Umzugskartons, die von den Schädlingen befallen sind, wieder von ihnen zu befreien. Das funktioniert, indem die Akten zunächst in einem sorgfältigen Prozess eingefroren werden - um die Insekten abzutöten, damit die Akten künftig auch wieder der Öffentlichkeit zugänglich werden.

„Archive sind für alle da“, betont Leiter Marco Birn. „Einerseits als Forschungsgrundlage für heutige und zukünftige Historikerinnen und Historiker. Andererseits steht unsere Türe allen Bürgerinnen und Bürgern offen.“

Anfragen per Mail an das Kreisarchiv gebe es jede Woche mehrfach, betont der Leiter. Seit einiger Zeit schon bemüht sich das Archiv deshalb, den Kontakt zu suchen. Etwa über die Archivsprechstunde - bei der nächsten soll es um Heraldik und Wappenkunde gehen. Wer hingegen so gar keine Ahnung hat, wo die Recherche losgehen soll, für den ist der „Kaffee mit Archivarin“ am 19. November ein sinnvoller Termin: Hierbei nimmt sich der Kreisarchivleiter Zeit, Einzelpersonen bei der Familienforschung zu beraten. Die Veranstaltungen und weitere Infos finden sich auf www.kultur-machen.de.

Hochmoderne Archivierung

Die Jugendagentur soll auch im neuen, fünfeckigen Landratsamt die Nachbarin des Kreisarchivs bleiben. Ansonsten muss erstmal eine neue Zentralregistratur her. Denn die ist unersetzlich für das „Wissensmanagement“ des Kreisarchivs. Aktuell erfassen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Akten, die im neuen Landratsamt wesentlich unproblematischer herausgesucht werden können.

Dafür werden die Akten aktuell mit scannbaren Codes versehen. Das ist wichtig, denn die Aktenschlange im neuen Archiv wird insgesamt ganze zehn Kilometer lang sein. Am Ende soll die gewünschte Akte dann in einem smarten Schrank landen, in dem Interessierte die Akte dann entgegennehmen können. Janina Humbs definiert das Ziel wie folgt: „Die Suche soll sich am Ende auf einen Meter beschränken und nicht auf zehntausend.“

Die Suche soll sich am Ende auf einen Meter beschränken und nicht auf zehntausend. Janina Humbs, Leiterin der Zentralregistratur des Reutlinger Kreisarchivs

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