Heiße Liebe im Kalten Krieg

Demokratie Die Beziehung von Dagmar und Siegfried Jahn aus Schrozberg übersteht die perfiden Angriffe der Staatssicherheit. Beim CDU-Parteitag ziehen die beiden Schlüsse aus ihrer Liebe über Grenzen.

Wie kann eine Liebe eine Grenze mit Todesstreifen überwinden? Dagmar (61) und Siegfried (66) Jahn verraten es bei der Kreisversammlung der CDU am Freitag. In den Räumen der Landmetzgerei Setzer dudelt im Hintergrund süßliche Musik, Dry-Age-Beef reift in den gläsernen Kühlschränken vor sich hin. Wurst, Fleisch, Konservendosen im Überfluss: Die Kulisse wirkt fast wie eine Schlaraffenland-Parodie auf das Wohlstandsdeutschland. Ein krasser Gegensatz zu der Geschichte aus der Mangelwirtschaft der DDR, die hier erzählt wird.

Selbst nach zwei Stunden Formalien und Wahlen beim CDU-Kreisparteitag in Wolpertshausen hören die mehr als 50 Personen im Raum gebannt zu. Heiße Tipps aus den Zeiten des Kalten Kriegs: Das Paar warnt vor dem erneuten Aufkommen der DDR-Methoden aus Lügen, Verunsicherung und der Verherrlichung einer Diktatur.

Heutzutage wäre es vielleicht schon abendfüllend genug, einem Paar zuzuhören, das seit 40 Jahren verheiratet ist, auf vier verheiratete Töchter und bald neun Enkelkinder blickt, und sich eben nicht getrennt hat.

Doch was der evangelische Pfarrer und die Krankenschwester, die sich jetzt so harmonisch das Mikrofon hin- und herreichen, erzählen, geht weit über eine simple Liebesgeschichte hinaus. Die CDU-Mitglieder und Gäste saugen die Worte geradezu auf.

Kuss auf der Treppe

Wir schreiben das Jahr 1982. Sie lebt östlich, er westlich des Eisernen Vorhangs. Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkriegs in zwei Teile getrennt. Das DDR-Regime sperrt sein Volk auf dem Territorium ein. Zu viele Menschen wollen dem „real existierenden Sozialismus“ den Rücken kehren. Ertrunken, erschossen oder auf eine Mine getreten: Zwischen 1949 und 1989 sterben mindestens 327 Menschen durch das DDR-Grenzregime.

Die Jahns wohnen friedlich im kapitalistischen Westen. In Bernhausen, wo es zur Erntezeit nach Filderkraut riecht. Der Bruder von Siegfried Jahn schmuggelt Bibeln über Helferfamilien in der DDR weiter in die UdSSR. Pakete zur Unterstützung einer befreundeten Familie im thüringischen Steinach werden verschickt. Auf einer Reise zu den Freunden im Sozialismus fährt Siegfried Jahn, der bis vor Kurzem Dekan in Blaufelden war, mit seinem Bruder mit.

Dagmar Greiner fällt ein Foto des Theologiestudenten, der bald anreisen soll, in die Hand. „Wenn der kommt, sind wir dich los“, sagt ihre Mutter damals prophetisch. „Ich habe zu Mutti gesagt: ,Nie ziehe ich aus.‘“

Doch es kommt am 10. März 1982 völlig anders. Die Liebe, oder in der Sicht der beiden Christen eben auch Gott, meint es anders mit ihnen. „Dann ist es passiert“, sagt Siegfried Jahn. Beide sind wie elektrisiert, als sie sich zum ersten Mal sehen. „Auf der Treppe küssten wir uns“, erinnert sich heute die damals 18-Jährige.

Ein verbotener Kuss. Persönliche Verbindungen dürfen die Grenzen zwischen Ost und West nicht überbrücken. Marmor, Stein und Eisen mag vielleicht brechen. Doch eine Liebe, die Mauern sprengt, ist im DDR-Regime nicht vorgesehen.

Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben. Das trifft auch auf „Fräulein Greiner“ zu – allerdings in einem positiven wie negativen Sinn. „Da schwirrt einem alles im Kopf herum: Wenn die Stasi etwas mitbekommt, werde ich exmatrikuliert.“ Und sie erfährt es.

Mehrfach kann Siegfried Jahn seine neue Liebe noch besuchen, doch als sich die beiden 1983 verloben und sie einen Ausreiseantrag stellt, schließt sich die eiserne Faust der vermeintlichen „Diktatur des Proletariats“. Die ersten Schikanen erfährt die junge Frau schon zwei Tage später nach der blumigen Verlobung. Kontaktsperre. Ihr Verlobter darf nicht mehr in die DDR einreisen. Die Examensnote der Krankenschwester wird willkürlich von einer eins auf eine fünf nach unten „korrigiert“. Sie wird von der Frauenklinik in Erfurt in ein Altenheim nach Sonneberg zwangsversetzt.

Wer das nicht glauben will, kann in dem Ordner nachlesen, den Dagmar Jahn bei der CDU-Versammlung am Freitag auf den Tisch legt. Der Inlandsgeheimdienst geht perfide vor. Als die Krankenschwester eines Tages nichts ahnend an einer Haltestelle in einer anderen Stadt auf den Bus wartet, wird sie von einem unbekannten älteren Mann mit „Fräulein Greiner“ angesprochen und erhält vermeintliche Grüße von „Familie Jahn“. Die Botschaft der Stasi: Du entkommst uns nicht! „Es ist ein perfides System gewesen, das Misstrauen zwischen allen Bürgern gesät hat“, sagt Dagmar Jahn.

Geruch für Suchhunde

Ab 1983 wird „Fräulein Greiner“ alle zwei Wochen bei der Stasi einbestellt, muss in besonderer Position auf einem Stuhl Platz nehmen. Heute weiß sie: „Die Stasi hat Tücher auf die Stühle gelegt, um den Genitalgeruch damit aufzunehmen. Im Falle einer Flucht hätten sie eine Fährte für die Hunde gehabt, die sie auf mich gehetzt hätten.“ Ein Eingriff in die Intimsphäre. So richtig klar wurde ihr das hinterher bei dem Besuch eines Museums über die DDR in Berlin. „Ich musste heulen, als ich das sah.“

Der Inlandsgeheimdienst behauptet, dass ihr Verlobter beim Theologiestudium in Basel eine neue Freundin gefunden hätte. Dagmar Jahn: „Wenn man sich ein Jahr lang nicht sieht, braucht man schon viel Liebe, um solchen Gerüchten nicht zu glauben.“ Den Versuch der Stasi, Nacktbilder von ihr anfertigen zu lassen, kann sie abwenden.

Nach einem Jahr solcher Schikanen darf sie am 7. August 1984 „zur Übersiedlung in die BRD mit anschließender Eheschließung“ ausreisen. Die Konsequenz: Republikflüchtigen wird die Wiedereinreise verwehrt. Weder Eltern noch Großeltern können bei der Hochzeit am 9. März 1985 in Westdeutschland mitfeiern.

Glockengeläut aus Protest

Die Begründung, warum die beiden nicht wie ursprünglich geplant in der DDR heiraten durften, zeigt aus Sicht von Dagmar Jahn die Angst, die das Regime vor einer simplen Verbindung zweier Menschen über die Grenzen hinweg hatte. Einem „gesamtdeutschen Treffen größeren Ausmaßes“  gelte es entgegenzuwirken, steht in der Stasi-Akte. „Meine Hochzeit war schön, aber ich habe an dem Tag auch sehr viel geweint, weil meine Familie ihn nicht miterleben durfte.“

Aus Protest lässt der Pfarrer in ihrem Heimatort in der DDR eine Stunde die Kirchenglocken läuten und ihr Vater spielt für alle hörbar Musik bei offenem Fenster ab. Das ganze Dorf weiß: Die Liebe über die Grenzen hinweg hat gesiegt.

Als Dagmar Jahn am 9. November 1989 im Fernsehen von der Pressekonferenz erfährt, in der Günter Schabowski die neue Reiseregelung für DDR-Bürger vorstellt, ist ihr nicht sofort klar, was das bedeutet. Das sagt Dagmar Jahn in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst. Am späten Abend klingelt es an ihrer Haustür. Vor ihr stehen ihre Eltern, die sich sofort ins Auto gesetzt hatten, um endlich ihre Tochter und Familie wiederzusehen: „Das sind Momente, die man nie vergisst, die einen prägen.“

Farbe bekennen

In den letzten Jahren hat das Paar ihre Geschichte mehrfach, auch im SWR-Fernsehen, erzählt. Denn sie haben Angst davor, dass der Schrecken einer Diktatur in Vergessenheit gerät. Ein System, das seine Bürger „schikaniert und auch betrügt“, dürfe es nie mehr geben, meint der ehemalige Blaufeldener Dekan, der nun in Schrozberg lebt. Dagmar Jahn sagt bei dem Kreisparteitag der CDU: „Die AfD spielt mit der Angst, arbeitet mit Unwahrheit. Das ist ein wenig das Pendant zur DDR.“ Es sei Zeit, Farbe zu bekennen. „Die AfD ist eine Partei, die von Fehlern anderer lebt“, sagt sie und spricht den CDU-Amtsträgern und Kandidaten ins Gewissen, zum Wohle der Bürger zu agieren.

Jedes Licht zählt

Siegfried Jahn: „Als ich in die DDR kam, habe ich mir gedacht: Dieses System kann man nicht beseitigen.“ Doch am Ende hätten Montagsdemonstrationen zum Sturz beigetragen. „Wenn man mit Kerzen einem solchen System das Licht auspusten kann“, habe das Handeln jedes Einzelnen eben doch eine Wirkung. Alles in dieser Welt könne man verändern.

Bericht CDU-Parteitag auf Seite 17

Haag-Preis für Ulrich Rüdenauer

Literatur Der Autor wird für sein Romandebüt „Abseits“ ausgezeichnet. Er war mit dem Buch bereits in Hall zu Gast.

Bad Mergentheim. Ulrich Rüdenauer aus Bad Mergentheim hat im Herbst 2024 seinen Debütroman „Abseits“ in der Reihe Literatur live in Schwäbisch Hall vorgestellt. Nun erhält er den mit 10.000 Euro dotierten Anna-Haag-Preis für seinen im Berenberg Verlag erschienenen Roman „Abseits“. Der vom Förderkreis der Schriftsteller in Baden-Württemberg jährlich verliehene Anna-Haag-Preis fördert Autorinnen und Autoren, die am Beginn ihrer literarischen Laufbahn stehen, heißt es in einer Mitteilung der Haller Kulturbeauftragten Ute Christine Berger.

„‚Sometimes I feel like a motherless child‘ – so lautet eine Zeile aus einem Spiritual, die der Autor Ulrich Rüdenauer seinem Roman ‚Abseits‘ vorausschickt. Kein Mensch ist ohne Mutter, aber manche Kinder lernen ihre Mutter nicht kennen, werden zu Verwandten gesteckt, bei denen sie ohne Liebe und Zuneigung, ohne Wärme und Geborgenheit aufwachsen, im Abseits“, schreibt Astrid Braun, Vorstandsvorsitzende des Förderkreises, zur Jurybegründung.

Weiter heißt es: „Die karge und kalte Welt auf einem Bauernhof im Südwesten Deutschlands, in der sich der junge Richard nach dem Krieg zurechtfinden muss, gewinnt Farbe, Licht und Wärme in der Fantasie. Worte können wärmen und beglücken, sie können das ersetzen, was an Nähe und Geborgenheit nicht gegeben wird. Der kleine Richard kann in seinem Kopf spazieren gehen, lernt sich in die Natur, in seine inneren Welten, in die Welt des geschriebenen Wortes zurückzuziehen.“

„Außergewöhnlich feinfühlig“

Rüdenauer erzähle die Geschichte einer bitteren Kindheit voller Empathie und kontrastiere sie mit dem Fußballwunder von Bern. Ein metaphorischer Bezug, der die Schwere der Geschichte, die auch von kollektiver Schuld und Verdrängtem erzählt, aufhebe. „Ein außergewöhnlich feinfühliges Romandebüt“, schreibt Braun.

< VORHERIGE SEITE NÄCHSTE SEITE >