Streit um Sexualkonzept in Kitas

  • Ein Kind spielt mit einer Erzieherin im Sandkasten einer Kita. Foto: Christoph Soeder/dpa

Erziehung In der Elternschaft in Hall regt sich Widerstand gegen das Konzept der Stadt und gegen Äußerungen des zuständigen Fachbereichsleiters. Auch der Gesamtelternbeirat bezieht Stellung.

Kinder sitzen auf dem Schoss der Erzieher, während sie ein Buch vorgelesen bekommen. Später werden sie von diesen beim Wickeln ausgezogen. Der Körperkontakt ist in Kindertagesstätten enger. Aber wann ist eine Umarmung übergriffig, wo ein Streicheln zu viel? Mit Schutzkonzepten sollen die Regeln klar definiert werden – auch, was Kinder untereinander dürfen.

Trotz Grenzen soll Kindern ermöglicht werden, Unterschiede zwischen den Geschlechtern kennenzulernen und zu erkunden. Die Stadt hat dazu für ihre 17 Einrichtungen im September ein sexualpädagogisches Konzept vorgelegt. Grundlage seien gesetzliche Vorgaben. Der scheidende Fachbereichsleiter Christoph Klenk sagte vor einem Monat dazu: „Es gibt enge körperliche Kontakte in Kitas. Es muss Klarheit darüber herrschen, wie damit umgegangen wird.“ Anja Thurm von der Fachstelle Kinderschutz bei der Stadt habe mit Fachkräften und Elternvertretern das neue sexualpädagogische Konzept auf den Weg gebracht.

Können Eltern widersprechen?

Doch dagegen regt sich massiver Widerstand aus der Elternschaft. Zu spüren war das in der jüngsten Gemeinderatssitzung in der Blendstatthalle. In der Bürgerfragestunde äußerte sich zunächst ein Gast. Erkundungsspiele seien ja schon immer erlaubt und erwünscht, weil das dazugehöre. Nach dem neuen Konzept dürften sich die Kinder in den Einrichtungen aber komplett ausziehen „und auch an ihren Genitalien Erkundungsspiele durchführen“.

Ein anderer Vater habe in der Kita beim Elternabend nachgefragt: „Was wäre, wenn seine vierjährige Tochter mit ihrem Kumpel Doktor spielt und er ihre Genitalien untersucht?“ Kann der Vater widersprechen? „Die Antwort war nein.“ Entweder, die Eltern müssten das Konzept gänzlich akzeptierten oder ihr Kind abmelden. Der Mann ärgert sich, fordert eine Möglichkeit, aus persönlichen oder religiösen Grünen, gewissen Handlungen zu widersprechen. Schließlich sollten Eltern als Haupterzieher ein Mitspracherecht haben.

Widersprüchliche Aussagen

Fachbereichsleiter Klenk, der beim Elternabend nicht dabei war, erwiderte in der Ratssitzung zur angemahnten Hop- oder Top-Aussage im Elternabend: „Ich kann es mir schlichtweg nicht vorstellen, dass diese Aussage dort so getroffen wurde.“ Dabei hatte er das selbst ähnlich im September formuliert und so die Richtung vorgegeben. Klenk sagte damals: Falls manche Eltern das Konzept komplett ablehnen, müssen sie letztendlich die Kindertagesstätte wechseln.

Im Gemeinderat erklärte Klenk auf das Statement in der Bürgerfragestunde zudem, dass die öffentliche Sitzung vielleicht nicht der richtige Ort sei, um das Konzept ausführlicher und offener zu erläutern. „Ich glaube, da müsste ich jetzt mehrere Stunden lang die Menschen erst abholen und sagen, wo wir stehen, was eigentliche die pädagogischen Hintergründe sind.“

Doch der Vater ist nicht der einzige. Der nächste Bürger in der Fragestunde bestätigt die Aussage im Elternabend. „Das ist tatsächlich so geschehen.“ Der Frust unter der Elternschaft ist groß, die die Entscheidungshoheit bei sich behalten wollen, „ob wir möchten, dass unsere Kinder sich ausziehen oder nicht ausziehen“. Allen Beteiligten ist zudem klar, dass ein Wechsel des Kindergartens in Hall in der Regel unmöglich ist. Plätze gibt es nicht, dafür lange Wartelisten. Ein Ablehnen des Konzepts führt aus Sicht der Eltern dazu, dass die Kinder fortan zu Hause betreut werden müssten.

Inzwischen hat sich auch der Gesamtelternbeirat (GEB) zur Sache geäußert. Stimmen dessen Aussagen, so wurden die Eltern – anders, als im September von der Stadtverwaltung dargestellt – bei der Konzeption doch nicht beteiligt. Der Vorstand des GEB (Lara Stein, Lisa Peikert und Bastian Wolter) begrüßt laut Schreiben zwar „ausdrücklich“ die Initiative der Stadt, ein sexualpädagogisches Konzept für die städtischen Kitas zu entwickeln. Der GEB stehe auch hinter der inhaltlichen Zielsetzung, Kinder in ihrer Entwicklung zu stärken, zu schützen und ihnen altersgerechte, respektvolle Aufklärung zu ermöglichen. „Gleichzeitig möchten wir mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Elternschaft in diesen Prozess bislang nicht einbezogen wurde.“

Im April hätten die Elternvertreter im Gespräch mit dem Fachbereich noch nachgefragt, ob ein neues oder erweitertes Schutzkonzept geplant ist. „Der Fachbereichsleiter hat dies damals verneint und auf das bereits bestehende Schutzkonzept verwiesen. Vor diesem Hintergrund überrascht uns die aktuelle Entwicklung sehr.“ Klenk habe stattdessen betont, dass die Stadt „eng und transparent“ mit dem Elternbeirat zusammenarbeiten wolle. Aber weder Elternbeiräte aus den Einrichtungen noch der Gesamtelternbeirat seien in die Konzeption eingebunden gewesen. Sie hätten erst im September durch das Schreiben der Stadt erfahren, dass das Konzept bereits fertig ist. „Diese fehlende Transparenz hat leider zu erheblichen Irritationen in der Elternschaft geführt. Das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Fachkräften ist dadurch an vielen Stellen belastet oder gar beschädigt worden.“

Spaltung durch die Stadt?

Durch das Vorgehen der Stadt sei es auch zu einer Spaltung der Elternschaft gekommen. „Ein Zustand, der keiner Seite dient und den eigentlichen pädagogischen Zielen entgegensteht.“ Aus Sicht des GEB sei das Konzept „in seiner jetzigen Form nicht tragfähig, da die notwendige Grundlage – das Vertrauen und die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Eltern, Fachkräften und Träger – derzeit nicht gegeben ist“. Der Vorstand empfiehlt, das aktuelle Konzept auszusetzen und einen neuen, transparenten Beteiligungsprozess zu starten. Das Konzept müsse dann gemeinsam mit den Eltern weiterentwickelt werden.

Wie reagiert die Stadt auf die Kritik der Eltern? Rathaussprecherin Friederike Gruenhagen-Wahl verweist auf laufende Gespräche mit Eltern, bei denen Rechtslage und Konzept besprochen würden. „In Einzelfällen erfolgt dies mit der Fachstelle Kinderschutz.“ Da es sich um unterschiedliche Sorgen und ein komplexes Themenfeld handelt, erfolgten die Gespräche „im Regelfall nur mit den jeweiligen Sorgeberechtigten“.

Ausklammern nicht möglich

Die Stadt werde für da Konzept unter anderem beraten und begleitet von der Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt Infokoop, vom Freiburger Zentrum für Kinder- und Jugendhilfe sowie von der Pro Familia Hall.  Die Arbeit der Fachstelle Kinderschutz soll in einer kommenden Sitzung des zuständigen Fachausschusses vorgestellt werden.

Die Stadtverwaltung betont: „Wir sind dazu verpflichtet, ein solches Konzept vorzuweisen. Kindliche Sexualität und sexuelle Bildung sind sensible Themen und jede Familie hat unterschiedliche Vorstellungen bezüglich kindlicher Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit und dem Umgang damit.“ Einzelne Aspekte von kindlicher Körperlichkeit individuell auszuklammern, sei in diesem Kontext nicht vorgesehen. Die Stadt sei vielmehr als Träger der Einrichtungen verpflichtet, sich dem Thema anzunehmen, so Gruenhagen-Wahl. „Das Konzept dient als Leitfaden für die Fachkräfte. Sie werden damit befähigt, auf Situationen im Spielverhalten der Kinder angemessen zu reagieren und dort Grenzen zu setzen, wo es nötig ist.“

Was, wenn die Vierjährige mit ihrem Kumpel Doktor spielt und er ihre Genitalien untersucht? Ein Haller Vater nutzt die Bürgerfragestunde des Gemeindesrats.

NÄCHSTER ARTIKEL