„Sein Notizbuch könnte des Rätsels Lösung sein“

  • Er will Rafael Blumenstocks Mörder fassen: Manuel Köhler, Leiter der Cold-Case-Einheit in Ulm. Volkmar Könneke
  • Rafael Blumenstock Mordfall Ulm SWR

Interview Wer hat Rafael Blumenstock ermordet? Manuel Köhler, Leiter der Ulmer Cold-Case-Einheit der Polizei, spricht über die Rätsel des Falls, das Brüten über alten Akten und das Leiden der einzigen Zeugin.

Kriminalhauptkommissar Manuel Köhler ist der Mann für ungelöste Fälle am Polizeipräsidium Ulm. Einer dieser „Cold Cases“ ist der Mord an Rafael Blumenstock: Der 28-Jährige wurde vor 35 Jahren auf dem Ulmer Münsterplatz brutal ermordet. Um den Fall war es lange Zeit still geworden, doch nun gehen die Ermittler in die Offensive: Kürzlich war Köhler bei „Aktenzeichen XY... ungelöst“, auch ein SWR-Podcast soll Bewegung in den Fall bringen.

Herr Köhler, um den Fall Rafael Blumenstock ist es lange still gewesen. Wie groß ist Ihre Zuversicht, dass man die Täter noch finden kann?

Manuel Köhler: Also, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass es sich lohnt, dann würde ich das alles nicht machen. Allein die Vorbereitungen für die ZDF-Sendung waren recht umfangreich. Gespräche mit Redakteuren, Erläuterungen – ich versuche ja schon ein möglichst genaues Bild des Opfers zu zeichnen und ein Bild der Umstände zu geben. So einen Zeitaufwand betreibt man nur, wenn man überzeugt ist, dass da was dabei rumkommen könnte. Und das hat sich jetzt im Fall Rafael Blumenstock gezeigt, wie auch im Fall Sabine Rahn, mit dem ich dieses Jahr auch schon bei sein XY war. Bei solchen Fällen bin ich auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen.

Gibt es unter den Hinweisen nach XY eine heiße Spur?

Von einer heißen Spur will ich nicht reden. Eine Frau rief an und gab einen Hinweis, der den Fall in ein ganz anderes Licht stellen würde…

Sie sagte, dass Blumenstock von einem Verbrechen wusste und bedroht wurde…

Ob da was dran ist oder nicht, dazu kann ich gerade nichts sagen, aber wir gehen natürlich jedem Hinweis gewissenhaft nach. Bis ich sage, es geht nicht weiter. Manchmal zum Beispiel gibt es Hinweise auf bereits verstorbene Personen. Oder die Datenlage macht uns einen Strich durch die Rechnung, weil ein Autokennzeichen etwa schon 40 Jahre alt ist und das Kraftfahrtbundesamt keine Unterlagen mehr hat.

Sie legen jetzt mehr Fakten auf dem Tisch als je zuvor. Haben Sie Ihre Strategie geändert und wollen nochmal Erinnerungen hervorlocken?

Das gehört schon mit zum Konzept. Hinter dem Ganzen steht aber auch generell das Bestreben der Polizei in ganz Baden-Württemberg, solche „Cold Cases“ noch einmal aktiver anzugehen. Dafür wurden in den Präsidien Abteilungen gegründet, die sich um diese Fälle kümmern. Die Ulmer Einheit wurde im Februar 2022 gegründet. Seitdem arbeite ich fast ausschließlich an „Cold Cases“, und dadurch bewegt sich natürlich in diesen Fällen auch ein bisschen mehr.

Nicht jeder ist mit dem Fall Rafael Blumenstock vertraut. Was können Sie zu seiner Person sagen?

Rafael Blumenstock war zum Zeitpunkt der Tat 28 Jahre alt. Er hat damals erst vier Wochen in einer eigenen Wohnung gewohnt beim Ulmer Salzstadel. Die Wohnung gehörte seinen Eltern. Das war eine Wohngemeinschaft mit drei weiteren Männern. Rafael war der dritte von insgesamt fünf Brüdern.

Wie war seine Rolle in der Familie?

Er war, glaube ich, ein wenig anders als seine Brüder. Im Kreis der Familie wurde dann entschieden, dass es ihm guttäte, auf eigenen Beinen zu stehen. Er hatte Musik studiert und hielt sich mit Klavierunterricht über Wasser. In den Polizeiakten von damals steht oft das Wort „Sonderling“. Das verwende ich nicht.

Bezog sich das auch auf sein Erscheinungsbild?

Er war sicher anders als die meisten anderen Männer und fiel auf. 1990 war er meines Wissens der Einzige in Ulm, der auch tagsüber in Frauenkleidern und geschminkt durch die Stadt ging und sich nichts dabei gedacht hat. Das war einfach seine Art. Eigentlich muss man ihm sehr großen Respekt zollen, dass er sich das damals getraut hat. Aber das ist natürlich vielen auch negativ aufgestoßen.

Er sprach Leute auch gerne an.

Ja, er hat oft Passanten angesprochen, zum einen nach Zigaretten oder auch mal nach Geld gefragt. Manchmal wollte er von jüngeren Männern die Telefonnummer, um sie dann im Anschluss anzurufen. Welchen Inhalt diese Telefonate hatten, tja: Beim einen oder anderen hat er wohl auch versucht, Telefonsex zu haben. Dass sowas nicht bei jedem gut ankommt, kann man sich vorstellen.

Die Tat war ausgesprochen brutal: 21 Messerstiche, Tritte ins Gesicht, Sie sprechen von „Overkill“ (Übertötung). Weist das auf eine Beziehungstat hin, auf großen Hass?

Wenn ich die Dynamik dieser Tat sehe, würde ich schon sagen, da ist sehr viel Hass im Spiel. Dieses Übertöten, dieses Ausufern der Gewalt kennt man sonst vor allem von Beziehungstaten. Aus dem Bauch heraus würde ich daher sagen, dass es zwischen dem Täter oder den Tätern und Rafael Blumenstock eine Art Vorbeziehung gab. Das muss aber nicht zwingend heißen, dass man sich schon länger kannte. Es ist auch gut möglich, dass Täter und Opfer einige Stunden zuvor schon einmal aufeinandergetroffen sind.

Muss man trotzdem davon ausgehen, dass das Zusammentreffen auf dem Münsterplatz Zufall war?

Rafael Blumenstock war ein Nachtschwärmer. Aber er war auch nicht jedes Wochenende so lange unterwegs. Es war sicher nicht planbar, dass er um 5.45 Uhr am Münsterplatz ist. Ich glaube, dass er, als er abends um 21.30 Uhr losgelaufen ist, selber nicht gewusst hat, wo er wann sein wird. Es war aus meiner Sicht eine Zufallsbegegnung.

Ein weiteres Detail der Tat ist, dass ihm die Täter seine Nase abgeschnitten haben. Was sagt das aus?

Die Nase ist ein Detail, das uns sehr beschäftigt hat. Es war bekannt, dass er auf seine Nase sehr stolz war. Das hat er auch jedem kundgetan. Vielleicht wussten das der oder die Täter. Oder vielleicht war das auch stellvertretend, sagen wir mal, fürs Geschlechtsteil. Vieles spricht aber dafür, dass es eine bewusste Bestrafung oder Demütigung war.

Die Täter haben sich schließlich bewusst die Zeit dafür genommen...

Ja, der Ulmer Rechtsmediziner, Prof. Sebastian Kunz, hat festgestellt, dass die Nase erst nach seinem Tod abgeschnitten wurde. Und dass da mehrmals angesetzt wurde. Das war eine sehr bewusste Tat, das ist nicht im Affekt geschehen.

Was ist mit der Theorie, dass es rechte Skinheads waren?

Sie sprechen die Abdrücke auf Gesicht und Körper an, die von Springerstiefeln stammen könnten: Letztendlich ließ sich nie klären, von welcher Art Stiefel diese Abdrücke stammen. Ob es Springerstiefel waren, amerikanische Soldatenstiefel oder ganz andere. 1990 gab es ja noch die US-Kaserne in Neu-Ulm. Wir haben da sehr viel ermittelt. Man muss sagen, es war November, kalt und nass. Da trägt wohl niemand Tanzschuhe.

Es gibt ja den Vorwurf aus der linken Szene, dass die Polizei damals auf dem rechten Auge blind war…

Das muss ich wirklich zurückweisen. Woher die Hinweise auf Skinheads damals kamen, ist heute gar nicht mehr so klar. Die Ermittler sind dem aber genauso nachgegangen wie anderen Hinweisen auch. Es wurde die ganze rechte Szene von Ulm bis zum Bodensee und Nürnberg umgekrempelt. Ich würde sogar sagen, dass in diese Richtung sehr intensiv ermittelt wurde.

Wie sieht es mit Beweismitteln aus? Es soll eine Tasche von ihm fehlen.

Es war eine vermutlich weiße Tüte mit seinem Notizblock und seinem Schlüssel drin. Die ist nie wieder aufgetaucht. Ich glaube, dieser Notizblock könnte des Rätsels Lösung sein. Rafael Blumenstock hat halbstündliche Eintragungen darin gemacht. Darin hat er etwa die Namen und Telefonnummern von Männern eingetragen, die er angesprochen hat. Diese Notizen wären für uns natürlich sehr wichtig.

Es soll auch eine DNA-Spur geben…

Ja, es gibt da etwas. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Tut mir leid.

Freunde sagen, Rafael Blumenstock habe sich vor der Tat „komisch“ verhalten. Wurde er bedroht?

Wir wissen über einen seiner Brüder, dass Rafael eine Woche vor seinem Tod im Rahmen eines Telefonates gesagt bekommen habe: „Ruf mich nie wieder an oder ich bringe dich um.“ Wir wissen aber nicht, wer der Gesprächspartner am Telefon war.

Sie haben gesagt, Sie gehen von mindestens zwei Tätern aus. Wie sicher sind Sie sich da?

Wichtig sind dabei natürlich die Aussagen der Zeugin, die mit dem Wohnmobil auf dem Münsterplatz übernachtete. Sie hat laute Schreie gehört und durchs Fenster drei junge Männer beobachtet, die hektisch herumliefen. Nach ihren Angaben wurden Phantombilder erstellt. Sie hat auch selbst eigene Zeichnungen angefertigt. Die Frau wurde damals sogar unter Hypnose vernommen. Das dürfte man heute gar nicht mehr machen.

Lebt die Frau noch? Kann sie sich an mehr Details erinnern?

Nach so vielen Jahren ist das schwierig. Da wird vieles verfälscht. Aber ja, sie lebt noch. Was sie in der Nacht erlebt hat, beschäftigt sie nach wie vor, sie hat daran zu knabbern. Sie macht sich auch Vorwürfe.

Warum?

Weil sie nicht raus ist aus dem Wohnmobil, nicht sofort die Polizei gerufen hat. Sie hat gewusst, da draußen ist gerade irgendetwas passiert. Irgendetwas, das nicht normal ist. Aber man muss die Situation bedenken: Ihr Mann und ihr kleines Kind haben geschlafen, es war stockfinster, sie war fremd in Ulm, Handys gab es noch nicht. Man kann ihr keinen Vorwurf machen.

Wenn man Sie so hört – Ihren Alltag, in alten Akten wühlen, Details recherchieren – muss man da besonders gestrickt sein?

Ich liebe es. Die Akten sind ­natürlich alle digitalisiert, aber ich arbeite auch gern mit der Original-Akte. Das ist nochmal etwas anderes, darin zu blättern. Aber man kommt auch schnell vom Hundertsten ins Tausendste und kann sich in den tausenden ­von Seiten verlieren. Um das zu vermeiden, mache ich mir viele Notizen.

Wie viele Fälle haben Sie auf Ihrer Liste?

Etwa 40. Nicht alle sind Tötungsdelikte, aber der Großteil. Natürlich müssen wir auch stark priorisieren.

Wie ist es, nach Jahrzehnten auf Angehörige von Opfern zuzugehen?

Ich muss in der Lage sein, Vertrauen aufzubauen. Zum Beispiel zur Familie Blumenstock. Denn es ist ja nicht einfach, wenn Wunden wieder aufgerissen werden. Nicht jeder ist dazu bereit.

Wie gehen Sie mit Sackgassen und Rückschlägen um?

Wenn keine Zuversicht da wäre, ginge es nicht. Manchmal kriegst du gute Hinweise und du gehst dem zwei Wochen intensiv nach. Und dann kommt wieder eine Mauer, du kommst nicht weiter und dann fällst du in ein Loch. Aber alles kann von einem Tag auf den anderen ganz anders sein. Also morgen kann jemand wegen Rafael Blumenstock anrufen und sagen: Ich weiß, wer es war.

Wenn ich die Dynamik dieser Tat sehe, würde ich sagen, da ist sehr viel Hass im Spiel.

Er war damals wohl der Einzige, der in Frauenkleidern und geschminkt durch die Stadt ging.

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