Roman

  • Cover Klett-Cotta, Stuttgart

Überall Karteikarten. Anders als schriftlich mag er mit seinen Mitarbeitern nicht mehr kommunizieren. Er seufzt und hört es nicht. Wie Otto Gürckel hätte er es halten und sich nach einem Nachfolger umsehen müssen, denkt er. Oder wenigstens nach einem fähigen Prokuristen. Gleich nach dem Krieg würde er sich darum kümmern. Jawohl. Nach dem Krieg wird es für die Jungheinrich GmbH & Co. KG weitergehen. Irgendwie. Irgendwann wird wieder Eichendorff gedruckt werden.

Arbeiter rennen über den Hof. Warum rennen die denn? Wozu diese jiddische Hast? Jemand bleibt kurz stehen, winkt zu ihm hinauf. Jungheinrich winkt belustigt zurück. Die Tannen an der Grenze zu den Gewächshäusern sind weiß, ihre Zweige schwer von Schnee. Über dem Schornstein steht wie ein einzelnes Rauchwölkchen der Mond. Unten auf dem Gleis warten noch drei Waggons mit der letzten Lieferung vom Balkan. Minderwertige Buche. Was will man machen? Holz ist heute so kriegswichtig wie Kohle. Finnische Fichten sind nicht mehr zu bekommen. Und poly­fluorierte Alkylsubstanzen werden gerade anderswo dringender gebraucht. Die Wehrmacht zahlt ihre Rechnungen nur noch in Schuldscheinen. Aber immerhin stellt sie die Arbeiter. Ohne diese verrohten Gesellen aus dem Osten hätte er den Betrieb längst einstellen müssen. Neulich haben zwei Russen kleine Schlingen aus Draht gebastelt und Krähen gefangen, die auf den gepressten Ballen aus feuchter Pappe immer nach Nahrung suchen. Bei der Flakstellung auf dem Umspannwerk haben sie die Vögel gerupft und über einem offenen Feuerchen gebraten. Hunger hin oder her, offenes Feuer ist auf dem Betriebsgelände streng verboten. Brandschutz. Ordnung muss sein. Jungheinrich hat die Vorhänge zugezogen, als unten die armen Teufel an die Wand gestellt wurden.

„… woher ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam’ und Art.“

Er greift nach dem Glas – und hält inne.

Hat der Cognac, wie er da so stand, gerade konzentrische Kreise gebildet? Er stellt das Glas zurück auf den Tisch. Tatsächlich. Ganz zarte Kreise von innen nach außen. Interessant.

Und jetzt bewegt sich der Füllfederhalter.

Ja, ist denn das die Möglichkeit? Der Stift hüpft, als hätte jemand auf die Tischplatte geschlagen. Das Licht flackert. Er hebt den Blick zum Leuchter. Er kreiselt, und aus dem Regal gegenüber springen die Bücher. Folianten, Romane, Hefte und Breviers tänzeln ungeduldig auf ihren Brettern. Lassen sich nach vorne auf den Boden fallen. Schon hängt sein Vater schief an der Wand, liegt der Großvater am Boden. Glas zersplittert. Was geht hier vor sich?

Er wendet sich zum Fenster. Alle Krähen sind fort, vom Schnee befreit die Tannen an der Grenze zur Gürckel’schen Gärtnerei. Der Schornstein schaukelt wie ein Baum im Sturm. Über den Gewächshäusern steht, illuminiert vom Mündungsblitzlicht der Flak auf dem Umspannwerk, glitzernd und rosarot zugleich eine Wolke aus Glassplittern und Blütenblättern. Das sieht wunderschön aus. Bevor ihn die Ziegelsäule des stürzenden Schornsteins erschlagen kann, blasen Druckwellen das Fenster aus dem Rahmen.

Es weht einfach durch ihn hindurch.

Weit draußen über dem Land geht ein einzelner Bomber nieder, winzig wie ein Lagerfeuerfunke. Die Flak an der Papierfabrik hat ihre Arbeit aufgenommen, die Leuchtspuren ihrer Geschosse streuen über die Förderkräne am Binnenhafen hinweg. In das Funkgerät, das Roswitha ihr hinhält, ruft Ursel: „Sieben von Süden. Kaiserstraße, Sinkflug. Vielleicht fünfhundert Meter.“ Über der alten Steinbrücke kommt etwas an Fallschirmen eingeschwebt, entzündet sich. „Rote Rauchbomben über dem Tor!“, ruft Ursel.

Das Brummen der ersten Bomber rollt über sie hinweg. Das sind die Kundschafter, die werfen die Leuchtmarken. Illuminieren die Stadt für die folgende Flotte. Aus dem Gegensprecher das Gekrächze der Warnzentrale aus dem Keller der Reichspost, Ursel versteht kein Wort.

„Was haben sie gesagt?“

„Weitere Verbände im Anflug!“, ruft Roswitha.

Fortsetzung folgt

© Klett-Cotta, Stuttgart

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