„Aufmerksamkeit wächst mit Beschäftigung“
Gast der Woche Doris Brötz ist Physiotherapeutin und hat häufig mit Menschen zu tun, die unter starken Schmerzen leiden. Zum Ausgleich fotografiert sie in der Freizeit gerne Vögel. Dieses Hobby hat ihren Blick für die Umwelt geschärft.
Haubentaucher, Blaumeisen oder Graureiher kommen vielen TAGBLATT-Leserinnen und -Leser wohl als Erstes in den Sinn, wenn sie den Namen Doris Brötz hören. Außer, sie hatten mal einen Bandscheibenvorfall oder eine neurologische Erkrankung: Dann ist es gut möglich, dass sie nicht zuerst an die Naturfotografin Doris Brötz, denken, sondern an die Physiotherapeutin Doris Brötz. Oder an beide, die Naturfotografin und die Physiotherapeutin, die ja in Wahrheit eine Person sind.
„Ich verbringe wesentlich mehr Zeit mit der Physiotherapie und den Patienten, als mit der Fotografie“, stellt Brötz klar. „Unsere Patienten leiden oft sehr – da ist es gut, einen beruhigenden Ausgleich in der Natur zu haben.“
Immer ein Koffer in Berlin
Die gebürtige Ulmerin hatte schon immer eine enge Verbindung zur Natur. Sie erzählt von ihrer Kindheit: „Beim Spazierengehen gab es kein Vorankommen, weil ich alles am Wegesrand anschauen und anfassen wollte.“ Als sich nach dem Abitur die Frage stellte, wohin ihre berufliche Laufbahn gehen sollte, hätte sie sich auch Tier-Forscherin als Beruf gut vorstellen können. „Aber ich war nicht so optimistisch, dass ich so eine interessante Arbeit machen kann wie Konrad Lorenz. Es war zu befürchten, dass nicht so viel in der Natur direkt stattfindet.“
Deswegen entschied sie sich dafür, die Beschäftigung mit der Natur als schöne Freizeitbeschäftigung beizubehalten und eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu beginnen. „Ich interessiere mich für Menschen, für die Physiologie, für Bewegung“, sagt Brötz. Ihre Ausbildung absolvierte sie in Berlin, wo ihre Eltern ursprünglich herkommen. „Insofern hatte ich schon immer einen Koffer in Berlin.“
Das Praktikum während der Ausbildung war damals extern – so kam Brötz zurück in den Süden: „Ich habe überlegt, wo es schön ist und fand Tübingen ganz ansprechend.“ Nach der Ausbildung und bis zur Geburt ihrer zwei Kinder arbeitete sie in der BG Unfallklinik in Tübingen als Physiotherapeutin; als ihre Kinder dann größer waren, begann sie im Uniklinikum. Dort hatte sie unterschiedliche Aufgaben. Unter anderem begann sie, zu Physiotherapie und neurologischen Erkrankungen zu forschen und publizierte zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten.
Aktivität gegen Rückenprobleme
„Als ich die ersten Studien initiiert habe, gab es das gar nicht, dass Physiotherapeuten geforscht haben“, so Brötz. Inzwischen gebe es zwar auch einen Studiengang Physiotherapie, doch Forschungsarbeiten seien immer noch selten. „Mich hat schon immer interessiert, herauszukriegen, warum etwas funktioniert oder nicht funktioniert“, sagt die Physiotherapeutin, in deren Arbeit das Thema Selbstbestimmung eine große Rolle spielt. „Häufig werden passive Maßnahmen als Standard-Physiotherapie definiert“, moniert Brötz. „Man muss sich aber viel mehr mit den Hintergründen und dem Motivieren der Patienten beschäftigen.“
Denn Brötz‘ Ansatz ist es, den Patientinnen und Patienten möglichst viel Verantwortung – und damit Kontrolle – über ihr Leid zurückzugeben. Daher ist es ihr wichtig, die Selbstwirksamkeit der Menschen, mit denen sie arbeitet, zu stärken und ihnen durch Verhaltensregeln und Übungen eine aktive Rolle in der Verbesserung ihrer Schmerzen zu geben.
Die Anatomie eines Spechts
„Ich kenne mich zwar mehr mit der Anatomie des Menschen aus, aber was ich auch sehr spannend finde, ist etwa die Anatomie des Spechts“, sagt Brötz. „Dessen Gehirn ist an einer speziellen Aufhängung im Schädel befestigt, damit es geschützt ist, wenn er mit dem Kopf gegen den Stamm donnert.“ Seit sie vor acht Jahren damit begonnen hat, mit ihrem Teleobjektiv Tiere zu fotografieren, beobachtet sie die Umwelt noch genauer: „Die Aufmerksamkeit wächst mit der Beschäftigung“, sagt die Tübingerin. „Viele Tiere waren schon immer da, aber ich habe sie nicht gesehen.“
Sie genießt nicht nur, von ihren Streifzügen in der Natur schöne Bilder mitzubringen, sondern auch die Einblicke, die sie durch ihre Kamera bekommt: „Mit dem Teleobjektiv kann ich Dinge sehen, die ich sonst nicht erkennen könnte“, erzählt Brötz. „Man spricht zum Beispiel von einem LBR (little brown bird/ kleiner brauner Vogel) – jetzt kann ich erkennen, dass das ein Zilpzalp ist, der da in der Baumkrone sitzt.“
Durch die Naturfotografie hat Brötz viel über die Gewohnheiten der Tiere gelernt, die sie fotografiert. Meist geht sie auf gut Glück hinaus; die Tiere, die ihr vor die Linse kommen, sind Zufallsbegegnungen. „Letztes Jahr habe ich zufällig Kuckucke gesehen.“ Manchmal weiß sie aber auch schon, dass sie an bestimmten Orten bestimmte Tiere finden wird. So hat sie zum Beispiel über ein ganzes Jahr ein brütendes Haubentaucher-Paar am Hirschauer Baggersee beobachtet.
Doch nicht nur die Begegnungen mit den Tieren gefallen Brötz, sondern auch die Begegnungen mit den Menschen. Denn immer wieder stellt sie ihre Fotografien aus. Ab dem 10. Mai werden von Brötz‘ festgehaltene Szenen aus der heimischen Vogelwelt im Rottenburger Haus am Nepomuk zu sehen zu sein. „Ich freue mich, dass ich über die Fotos auch andere Menschen an meiner Liebe zur Natur teilhaben lassen kann.“