Lebenslang Reutlingen
Literatur Erinnerung an die Reutlinger Schriftstellerin Sibylle Mulot, die heute 75 Jahre alt geworden wäre.
Reutlingen. Die Stadt Reutlingen hat sie zeitlebens nicht losgelassen. Dort wurde Sibylle Mulot 1950 geboren und hat nach 20 Jahren in Frankreich ihren Ruhestand verbracht, ehe sie Ende 2022 in Tübingen gestorben ist. Mulot hatte in Tübingen, Zürich, Toulouse und Wien Germanistik studiert und über Robert Musil promoviert. Nach einem Volontariat bei der „Süddeutschen“ arbeitete sie seit 1980 als freie Schriftstellerin. Sie schrieb neben Reisereportagen Romane und Erzählungen, zudem übersetzte sie aus dem Niederländischen. Seit 1990 lebte sie mit ihrem Lebensgefährten und den beiden Töchtern in Frankreich am Fuß der Vogesen. Als die Töchter in Deutschland studierten, kehrte sie mit ihnen zurück – erst nach Pliezhausen, dann wieder in die Geburtsstadt.
Ihre Reutlinger Wurzeln hat Sibylle Mulot in dem 1999 erschienenen Roman „Die unschuldigen Jahre“ verarbeitet. Die Textilstadt Merklingen im Buch ist unschwer als ihre Geburtsstadt erkennbar. Dort gibt es eine Liststraße und ein Kellertheater. Und in Anspielung an den Reutlinger Schriftsteller Gerd Gaiser ist ein Kapitel mit „Schlussball“ betitelt – so hieß dessen bekanntester Roman von 1958.
Mulots Roman behandelt das Erwachsenenwerden in einer Familie mit drei Töchtern. Die 14-jährige Protagonistin Mimi ist wie Sibylle die jüngste. Auch ihren Vater hat die Autorin im Buch verewigt. Arno Mulot leitete nach dem Krieg das Isolde-Kurz-Gymnasium, die Tochter hatte selbst Unterricht bei ihm. In der NS-Zeit zählte der Vater indes zu den führenden nationalsozialistischen Literaturwissenschaftlern. Er publizierte 1937 bis 1942 eine mehrbändige „völkische Literaturgeschichte“, was ihm die Tochter im Roman dezent aufs Butterbrot schmierte. Später hat sie nicht mehr so gern über das Thema gesprochen – es sei auch nach all den Jahren noch heikel, sagte sie im Interview mit dem TAGBLATT 2015.
In „Die Fabrikanten“ porträtierte Sibylle Mulot 2005 eine Industriellenfamilie im Schwarzwald; Kritiker verglichen das Buch mit den „Buddenbrooks“. Bereits 1995 arbeitete die Schriftstellerin in „Nachbarn“ die Geschichte der französischen Résistance auf. Ihr letzter Roman „Die Unwiderstehlichen“ beschrieb 2007 gekonnt den Menschentypus der Maniker; Modell stand ein entfernter Verwandter. Im Reutlinger Ruhestand gab Mulot noch einige Schreibkurse. Vor allem betrieb sie aber Ahnenforschung und erforschte ihre Vorfahren, wälzte Akten in Archiven bis zurück ins Jahr 1699. Ein Buch ist nicht mehr daraus geworden. „Ruhestand ist Freiheit“, sagte sie 2015. Am heutigen Samstag wäre Sibylle Mulot 75 Jahre alt geworden.