Quelle der Inspiration oder Pose?

Matinée Zur Rezeption Thomas Manns: Lesung mit Tina Stroheker und Gerd Kolter in der Göppinger VHS.

Göppingen. Nachdem die erste Lesung zu Thomas Mann den Schwerpunkt auf sein Werk und seine Biographie gelegt hatte, lag in der Matinée-Lesung bei der VHS der Fokus auf der Rezeption. Sie reichte von Anerkennung der sprachlichen Geschliffenheit und Quelle der Inspiration bis hin zur Ablehnung. Tina Stroheker und Gerd Kolter hatten dazu eine Fülle an Material ausgewählt, die namhafte Autoren wie Brecht, Benn, Döblin, Rühmkorf oder Lenz sowie Literaturkritiker wie Reich-Ranicki oder Walter Jens und journalistische Stimmen aus renommierten Zeitungen zu Wort kommen ließen.

Und die Eislinger Autorin und der Göppinger Autor setzten selbst unterschiedliche Schwerpunkte und hatten dazu Werkbeispiele von Thomas Mann ausgewählt: aus Buddenbrooks, den Josephs-Romanen, Zauberberg, Tristan, Lotte in Weimar, Tod in Venedig, sowie aus den endlich freigegebenen und gedruckten Tagebüchern und Jugendbriefen mit Gedanken zur Triebabtötung.

Wie erkläre man, dass der Ungeliebte so viel gelesen und verehrt worden sei? Zur Sprache kam, dass seine Schriften erschreckend aktuell sind. Und seine Ansprache an die Deutschen in der Nazizeit und was ihm Deutschland nicht verziehen habe (ZEIT 2025). Am Anfang rechtskonservativ, dann Humanist und Demokrat, in der Folge aber der Vorwurf an ihn, auf den Logenplätzen des Auslands gesessen zu haben.

Thomas Mann wurden Attribute zugedacht wie Autor für gebildete Leute und Meister der Abschreibekunst (Walter Jens); gepflegter großbürgerlicher Schriftsteller; Bügelfalte zum Kunstprinzip erhoben; Phantasie durch Beobachtung ersetzt; sprachgewaltig, aber umständlich; Ruhestandsprosa im Müßiggang, die einen zähen Auswurf umrührt (Peter Rühmkorf); als auktorialer Erzähler übergriffig; verschleiert seine Unfähigkeit; Pose und Ironie als Verkleidung; berauschende Wirkung.

Mann habe in der philosoph-historisch sublimierten Darstellung von Homosexualität geschwankt zwischen Bekenntniswunsch und Verbergen. Der Straf-Paragraph 175, der erst 1994 abgeschafft wurde, habe seine Texte geprägt. Der Weg zum Geist durch das Sinnliche und die Berauschtheit durch das Schöne (Tod in Venedig) zeige ein bis zur Askese gehendes Verantwortungsbewusstsein seiner unterdrückten Sexualität. Mann habe über sich gut Bescheid gewusst, verberge es aber vor den anderen und vor sich selbst (SPIEGEL 1975). Am Ende der Matinée ein Mann-Zitat: „Ich kann von Glück sagen, dass ich mit meinen Werken einen kleinen Vollbringer geben konnte, das Spätere erfreuen mag.“

Annerose Fischer-Bucher

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