Ehrlich und schonungslos

  • Tino Zimmermann aus Templin in Brandenburg hat einen problematischen Abschnitt seiner Biografie künstlerisch verarbeitet. Mit seiner Kunst möchte er "gesellschaftliche Stigmata hinterfragen und zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen beitragen". Foto: Ralf Snurawa

Kunst Was aus einer persönlichen, durch Drogenmissbrauch und Depression geprägten Geschichte entstehen kann, zeigt die Ausstellung mit Fotografien von Tino Zimmermann im Crailsheimer Stadtmuseum.

Sie sei über Manuel Lässle, mit dem sie beim Kulturwochenende zusammenarbeite, auf Tino Zimmermann gekommen, berichtete Friederike Lindner in ihrer Begrüßung zur Vernissage am Freitagabend. Lässle arbeitet bei der Jugend-Sucht-Beratungsstelle des Landkreises Schwäbisch Hall. Er hatte der Leiterin des Crailsheimer Stadtmuseums auf das Künstlerbuch „Developments“ des aus Templin stammenden Künstlers hingewiesen.

„Das Buch hat mich gefangen genommen und gefesselt“, gestand Lindner, die sich dann auch Zimmermanns Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim angesehen hatte: „Das war ein sehr intensives Erlebnis.“ Die Ausstellung Zimmermanns im Stadtmuseum sei dagegen völlig neu gestaltet. Auch hier sind die Fotografien aus seinem 2024 im Eigenverlag veröffentlichten Buch die Grundlage gewesen.

Neben Hochglanzabzügen der noch analog entstandenen Fotografien finden sich auch Fahnen, etwa eine, auf der Zigarettenkippen sein Bett und den Bettvorleger einrahmen. Auf einer anderen Fahne hat der Künstler Computerschrift mit Fotos kombiniert. Des Weiteren sind große, fast raumhohe Collagen entstanden, die aus abgerissenen Fotografieausschnitten zusammengesetzt und zu einer Art Tapete gefügt wurden.

Wie abstrakte Malerei

Im Gespräch mit der Kunsthistorikerin Dorotea Lorenz, die seine Ausstellung in Mannheim schon betreut hatte, in der Spitalkapelle merkte Zimmermann an, dass die Collagen – obwohl mit Fotografien als Grundlage – wie abstrakte Malerei wirkten – und auch einen absichtlichen Kontrast zu den Hochglanzfotos bilden sollten: „Das Künstlerbuch bleibt aber das Herzstück. Das Ausstellungsformat dient mir dazu, vielleicht neue Dialekte zu finden, um dasselbe auszudrücken.“

Lorenz wies noch auf die Textfragmente auf einigen der Fotografien hin: Ob sie zum Nachdenken anregen sollten? „Ja, schon. Manchmal kann die offene Frage viel länger nachklingen wie eine definitive Aussage.“ Da gibt es etwa die Aufforderung der Mutter, er solle sich zusammenreißen. Manche Frage stamme auch aus einer Therapie.

Denn der 1990 in Templin in Brandenburg geborene Tino Zimmermann kam jung über die Familie zu Drogen. Die Suchtbelastung, psychische Belastungen und gesellschaftliche Isolation führten zu allerlei Problemen. Dann bekam er einen alten, analogen Fotoapparat geschenkt und begann zu fotografieren.

Er hatte sich das Fotografieren selbst beigebracht, sich darin hineingesteigert, seinem Alltag damit eine Struktur gegeben. Es hatte ihm auch geholfen, vom alten Umfeld wegzukommen. Das Fotografieren brachte ihm – ohne Abitur – zum Studium von „Visual Journalism and Documentary Photography“ an der Hochschule in Hannover. Dem schloss sich ein freies Kunststudium an der Kunstakademie Karlsruhe an. Von 2020 bis 2024 war Zimmermann Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes.

Für sein Künstlerbuch „Developments“ hatte er rund 10.000 in seiner schwierigen Zeit entstandene Fotografien als Grundlage verwendet. „Das waren fünf oder sechs Kartons voll, durcheinander mit Fotografien.“ In das Wirrwarr hatte er eine Struktur gebracht: „Es gibt einen Handlungsstrang, wie sich jemand das Fotografieren beibringt. Es gibt einen Handlungsstrang, wie ich mich auch durch Krankheit verändere. Und es gibt auch andere Charaktere. So taucht zum Beispiel meine Mutter auf – im Grunde eine Art Roman.“ In der Ausstellung im Stadtmuseum ist es eine chronologische Abfolge.

Wie Tino Zimmermann auf den Titel gekommen sei, wollte Dorotea Lorenz noch von ihm wissen. „Ich habe sehr lang über den Titel nachgedacht. Am Ende hatte ich aber nichts Passenderes gefunden, auch weil es so eine schöne Doppeldeutigkeit hat: zum einen Fotos im Buch analog, also das sind entwickelte Bilder, Entwicklungen; zum anderen ist das als Fotobuch so ein bisschen einzigartig, weil man über einen langen Zeitraum Entwicklungen von verschiedenen Sachen sieht.“

Zur Nachfrage künftiger Projekte wies Zimmermann auf eine Ausstellung im nächsten Jahr in der städtischen Galerie in Karlsruhe hin: Dort werde er Malereien zeigen, auf denen er sich mit der gesamtpolitischen Weltlage auseinandersetzen wolle. Denn er habe das Gefühl, dass sich Kunstschaffende viel zu wenig einmischen. Das Ganze soll ins Karikaturhafte gehen. Letzteres griff abschließend der in Crailsheim lebende Jazzsaxofonist Johannes Ludwig auf, der die Vernissage musikalisch mit Improvisationen auf seinem Altsaxofon umrahmte.

Info Die Ausstellung „Developments“ ist noch bis zum 16. November zu den Öffnungszeiten des Stadtmuseums zu sehen: mittwochs von 9 bis 19 Uhr, samstags von 14 bis 18 Uhr sowie sonn- wie feiertags von 11 bis 18 Uhr.

Das Buch hat mich gefangen genommen und gefesselt. Ein sehr intensives Erlebnis. Friederike Lindner Leiterin des Stadtmuseums

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