Wie Verschwörer denken
Prozess Ein Experte des Landeskriminalamtes klärt als Gutachter im Stammheimer Verfahren über „Reichsbürger“, QAnon, ihre Ideologien und Mythen auf.
Neun Männer sitzen seit beinahe eineinhalb Jahren im „Reichsbürger“-Prozess in Stuttgart-Stammheim hinter Panzerglas – angeklagt wegen Plänen zum gewaltsamen Umsturz der staatlichen Ordnung in der Bundesrepublik. Die Zuschauerreihen haben sich längst gelichtet, seit vielen Monaten geht es um das typische Kleinklein eines groß angelegten Terror- und Staatsschutzverfahrens. Jeder Ermittler, der auch nur ein Beweisstück sichten konnte, wird als Zeuge bemüht.
Am Mittwoch aber tritt ein aus Sicht der Öffentlichkeit vielversprechender Gutachter auf: Daniel Köhler, Experte beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg, soll über Verschwörungstheorien und die Reichsbürger-Ideologie aufklären – ein weites Feld, weshalb er vom Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart gleich für zwei Tage geladen wurde. Der Religionswissenschaftler und Politologe hat beim LKA derzeit kommissarisch die wissenschaftliche Leitung des Bereichs „Konex“ inne – einem Kompetenzzentrum für Extremismus, Aufklärungsarbeit und Ausstiegsberatung.
Dass der Besucherraum zu Beginn seiner Aussage ausnahmsweise mal wieder gut gefüllt ist, liegt an gut 30 Schülerinnen und Schülern der privaten Stuttgarter Merz-Schule, die eine Art Klassenausflug in den Hochsicherheits-Gerichtssaal in Stammheim unternommen haben. In einer Pause lassen sie sich von einer beteiligten Richterin erklären, was es mit dem wiederkehrenden „Gemurmel“ im Saal auf sich hat. Das rührt daher, dass sich die Angeklagten über die Mikrofone auch während der Verhandlung mit ihren vor der Glasscheibe sitzenden Verteidigern besprechen können. Nebenbei verrät die Richterin, dass der Prozess wohl noch ein bis eineinhalb weitere Jahre dauern könnte. Und dass es sich bei den Prozessbeteiligten im „roten Kittel“ um die Anklagevertreter der Bundesanwaltschaft handelt.
Der LKA-Gutachter erklärt zunächst, dass Verschwörungstheorien weit verbreitet sind. Je nach Land würden rund 15 bis 30 Prozent der Bevölkerung glauben oder zumindest nicht ausschließen, dass eine „geheime Elite“ Einfluss auf die Entwicklung von Staaten habe. Krisen wie die Corona-Pandemie seien ein idealer Nährboden, um solche Narrative zu stärken. Das simple Prinzip: Eine Bedrohung oder Grenzerfahrung wird auf „böswillige Akteure“ zurückgeführt, die unerkannt agieren und die Menschen unterdrücken. Ob diese nun einer „geheimen Elite“ angehören oder als „Deep State“ bezeichnet werden: Wer sich einmal in solche Gedankenkonstrukte verstrickt hat, ist laut Köhler anfällig für weitere Verschwörungstheorien, selbst dann, „wenn sich diese gegenseitig widersprechen“.
Die Verbindung zu den Terrorverdächtigen wird auch unausgesprochen schnell deutlich: Denn laut Anklage ging es den Männern darum, Deutschland an einem „Tag X“ durch eine geheime „Allianz“ gewaltsam von der ihrer Ansicht nach illegitimen Bundesregierung zu befreien. Einzelne Angeklagte wie Ralf S. hatten vor Gericht geschildert, wie sie in der Pandemie immer mehr in diese Gedankenwelt abgedriftet seien, erst über Querdenker, später über die Reichsbürger-Ideologie. Der Dachdeckermeister aus Horb war es auch, der aus der späteren Untersuchungshaft heraus bei der Ausstiegsberatung Konex um Unterstützung angefragt hatte, was vom LKA bestätigt wurde.
Auch persönliche Krisen machen dem LKA-Experten Köhler zufolge anfällig für Verschwörungstheorien – ein Umstand, der ebenfalls auf einzelne Angeklagte zutrifft. Von finanziellen Problemen, kaputten Ehen, Sorgerechtsstreitigkeiten oder anderen Verwerfungen war im Gerichtssaal immer mal wieder die Rede. Sorge bereitet dem Forscher, dass sich inzwischen auch die QAnon-Ideologie in Deutschland „rasant verbreitet“ hat, wonach eine „satanistische Elite“ Kinder entführt und zu Tode quält, um aus ihrem Blut ein Verjüngungselixier herzustellen. Köhler zufolge halten dies in den USA inzwischen 30 bis 40 Prozent für möglich, in Deutschland einer Umfrage zufolge 12 Prozent. Zentraler Glaubenssatz der Bewegung: Diese Elite soll durch die Apokalypse zu Fall gebracht werden – mit Hinrichtungen und „Nürnberg 2.0“-Tribunalen, wobei Donald Trump und Wladimir Putin als Heilsbringer gelten.
Die massive Durchmischung der verschiedenen Verschwörungstheorien ist dem Extremismus-Spezialisten zufolge bei „onlinebasierten Radikalisierungsprozessen“ inzwischen Normalität. Demnach bastelt man sich ein „individuell angepasstes Weltbild“ zusammen, wobei Rechtsextremismus, Antisemitismus, der Frauenhass sogenannter Incels, QAnon-Mythen und sogar der Islamismus miteinander verrührt werden. „In der Wissenschaft spricht man von einer Salatbar-Ideologie“ – ein Phänomen, das seit Jahren zunehme.
Durchmischung verschiedener Theorien.