Lange Wartezeiten für Kinder
Gesundheit In der Region brauchen mehr junge Menschen eine Psychotherapie, als es Plätze gibt. Im Kreis Neu-Ulm gibt es einen Lösungsansatz.
Die Warteliste von Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Frederike Lunkenheimer ist lang. Sehr lang. 300 bis 350 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene warten derzeit auf einen Therapieplatz in der Blaubeurer Praxis. Unter ihnen Grundschüler mit ADHS, die Schwierigkeiten in der Schule haben, oder Teenager mit posttraumatischer Belastungsstörung. „Es sind bunt gestreute Störungsbilder“, sagt die Therapeutin. Was fast alle gemeinsam haben: Sie bräuchten dringend Hilfe. Bis sie diese bekommen, dauert es aber. In der Praxis im Blaubeurer Gesundheitszentrum mindestens ein Jahr. „Manchmal auch länger“, berichtet Lunkenheimer, die mit zwei weiteren Therapeutinnen zusammenarbeitet.
Ähnlich sieht es auch in anderen Praxen im Alb-Donau-Kreis aus. Dort sind laut Kassenärztlicher Vereinigung Baden-Württemberg (KVB) derzeit drei Sitze für Psychotherapeuten frei, darunter fallen auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Ein Sitz muss außerdem nachbesetzt werden. Zwar zählt der Kreis laut KVB-Sprecher Kai Sonntag noch zu den eher besser versorgten – „rein rechnerisch“. Im Alltag müssen Therapeutinnen wie Lunkenheimer Kinder und Jugendliche mit hohem Leidensdruck aber oft auf die Warteliste setzen. Für die Familien, die akut Hilfe nötig hätten, oft eine große Enttäuschung. „Auch für uns ist das schwer auszuhalten“, sagt sie. „Es kann sein, dass man nach einem Jahr eine ganz andere Symptomschwere hat.“
Erstes Gespräch am Telefon
Was also tun, wenn man für sein Kind keinen Platz findet? Lunkenheimer verweist auf die psychologischen Beratungsstellen im Kreis – „ein deutlich niedrigschwelligeres Angebot“. Allerdings nur geeignet, wenn Störungsbilder nicht stark ausgeprägt sind. Auch Andreas Mattenschlager, Leiter der Psychologischen Familien- und Lebensberatung der Caritas Ulm/Alb-Donau, betont, dass diese nicht für den medizinischen Bereich zuständig ist. „Wir haben sehr oft Anfragen von Menschen, die eigentlich auf einen Therapieplatz warten“, berichtet er. Jeder bekomme ein telefonisches Abklärungsgespräch innerhalb kurzer Zeit. Bis zum ersten richtigen Beratungstermin könne es aber bis zu drei Monate dauern.
Im Kreis Neu-Ulm gibt es einen Widerspruch zwischen der Situation auf dem Papier und der Realität. Beim Blick auf die Bayern-Landkarte der Kassenärztlichen Vereinigung könnte man zum Schluss kommen, dass es kein Problem gibt. Der Grund: Es ist kein regulärer psychotherapeutischer Kassensitz offen. Doch die Lage in den Praxen sieht anders aus. Bei Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Heike Fröhlich in Illertissen warten Klienten ein halbes Jahr auf einen Platz. Es kommen Familien mit Kindern aus dem nördlichen Kreis-Neu-Ulm, aber auch aus Kempten. Fröhlich arbeitet teils zwölf Stunden am Tag, weil es ihr schwerfällt, Patienten abzulehnen. Trotzdem muss sie auswählen, wen sie aufnimmt und wer warten muss. Ihr Fazit ist eindeutig: Sie würde sich mehr Kolleginnen und Kollegen wünschen.
Zum selben Schluss kommt Tobias Einfalt, der ebenfalls eine Praxis für Kinder und Jugendpsychiatrie in Illertissen betreibt. „Ich könnte das Doppelte arbeiten und würde den Bedarf trotzdem nicht decken“, sagt er. Zum einen vergrößere sich das Problem individuell für die Patienten, die keine Behandlung bekommen. Zum anderen entstehe auch ein ökonomisches Problem, ist Einfalt überzeugt. Demnach sei wissenschaftlich bewiesen: Die volkswirtschaftlichen Kosten steigen, wenn Menschen keine Psychotherapie bekommen.
Der Hilferuf ist mittlerweile angekommen. Wie die kassenärztliche Vereinigung in Bayern (KVB) berichtet, soll auf diesen Missstand reagiert werden. Weil die bundesweit gültigen Vorgaben der Bedarfsplanung in einigen Landkreisen keine Neuzulassungen für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten möglich machen, hat man sich in Bayern auf einen Weg verständigt, zusätzliche Sitze zu schaffen – sogenannte Sonderbedarfszulassungen. Darüber entscheidet ein Zulassungsausschuss. Der Landkreis Neu-Ulm ist einer von 13 Landkreisen in Bayern, für den zusätzlicher Bedarf von Kinder und Jugendpsychotherapeuten festgestellt wurde. Die Lage könnte sich also potenziell etwas entspannen - vorausgesetzt, die Stellen können besetzt werden.