Gestoßen, gestürzt oder freiwillig gesprungen?

  • Die Ereignisse in der Flüchtlingsunterkunft sind bislang noch nicht vollends aufgeklärt. Foto: Ralf Ott

Reutlingen Im Prozess zum Fenstersturz aus einer Flüchtlingsunterkunft und der folgenden Vergewaltigung macht das Opfer widersprüchliche Angaben.

Versuchter Totschlag und Vergewaltigung lauten die schwerwiegenden Vorwürfe. Am dritten Verhandlungstag war unter anderen der Geschädigte als Zeuge geladen. Doch wer gedacht hatte, seine Aussage bringe Licht in das Dunkel der tragischen Geschehnisse, sah sich getäuscht. Der 27-Jährige sagte nur zögerlich aus und widersprach mehrfach den Angaben, die er noch bei der polizeilichen Vernehmung gemacht hatte. Schließlich wurde er so einsilbig, dass der Vorsitzende Richter Armin Ernst von ihm wissen wollte, ob er im Gefängnis, wo er derzeit selbst eine Haftstrafe absitzt, bedroht worden sei. Dies verneinte er.

Der schmächtige junge Mann warf dem Angeklagten einen unsicheren Blick zu, als er mit schleppenden Schritten den Gerichtssaal betrat. Zum fraglichen Tag befragt, berichtete er leise, dass er zunächst mit dem Angeklagten und einem Mitbewohner in dessen Zimmer Alkohol getrunken und Marihuana geraucht habe. Später seien sie zu zweit in sein eigenes Zimmer gegangen, wo sie Musik gehört und Wodka getrunken hätten. Dort habe ihn der Angeklagte dann irgendwann aus dem Fenster runtergeworfen. Den Grund wisse er nicht. „Alkohol vielleicht.“

An dieser Stelle brach der Angeklagte sichtlich sein Schweigen und machte in seiner Landessprache Farsi aufgebracht einen Zwischenruf, den der Dolmetscher Qadir Fathai übersetzte: „Er hat sich selbst aus dem Fenster geworfen.“ Tatsächlich relativierte der Geschädigte seine Aussage immer mehr. Der Angeklagte habe zwar einen Stuhl auf das Fenster geworfen. Geöffnet habe er es aber selbst. Vielleicht sei er auch gestürzt, weil er sich nicht richtig festgehalten habe. Nach dem Sturz könne er sich an nichts mehr erinnern. Später habe er um Hilfe gerufen.

Ob er jemals Sex mit dem Angeklagten gehabt habe, freiwillig oder gezwungen? Der Zeuge verneinte: „So eine Beziehung habe ich nicht.“ Vor der Polizei hatte er noch angegeben, dass er schon einmal vom Angeklagten vergewaltigt worden sei. Als der Vorsitzende ihm dies und andere Aussagen vorhielt, beteuerte er, bei der Polizei nicht gelogen zu haben. So soll ihm der Angeklagte einmal auch aus heiterem Himmel eine Wodkaflasche auf den Kopf geschlagen haben.

Ebenfalls aus dem Gefängnis vorgeführt wurde der Mitbewohner, der dem Schwerstverletzten am Tattag zurück ins Haus geholfen hatte. Er habe Hilfeschreie gehört und vom Fenster aus gesehen wie ein nackter Mann am Boden lag, der Angeklagte stand über ihm. Er habe gedacht, die beiden seien betrunken. Erst im Zimmer des Geschädigten habe er die Verletzungen gesehen und den Security-Mann verständigt. Von der Vergewaltigung habe er erst später erfahren und sei geschockt gewesen.

Dieser Security-Mitarbeiter erinnerte sich daran, dass es mehrere Monate vor dem Fenstersturz einen Vorfall gegeben hatte. Da habe der Geschädigte aus dem Fenster springen wollen. Er habe dann die Polizei gerufen. Protokolliert wurde dieser Vorfall aber ganz anders. Da hieß es, der Mann sei aggressiv gewesen, er sei deshalb wegen Fremdgefährdung in die Psychiatrie gekommen.

Zurück zum tatsächlichen Fenstersturz: Der ermittelnde Beamte sagte aus, er habe den Geschädigten am Tag nach der Tat in der Klinik besucht und gemeinsam mit einem Kollegen und unter Beisein einer Dolmetscherin kurz befragen können. Da habe der Mann gleich geschildert, „dass er aus dem Fenster gestoßen worden sei“. Und er nannte als Täter den Angeklagten. Dabei sei er auch bei weiteren Befragungen geblieben.

Zur Vergewaltigung habe er am Anfang gar nichts gesagt. Er habe den Eindruck gehabt, dass der Mann keine Aussagen machen wollte, „wenn Menschen aus demselben Kulturkreis da sind“. Deshalb habe er ihn einmal ohne die Dolmetscherin auf deutsch befragt. Dabei habe der Geschädigte geschildert, wie der Angeklagte ihn auf dem Bauch vergewaltigt habe. Dies habe auch den Aussagen der Zeugen entsprochen und zu dem Überwachungsvideo gepasst: „Für mich waren damit die wichtigen Punkte erfüllt.“

Den Abschluss des Verhandlungstages bildete das Gutachten der Rechtsmedizinerin Dr. Melanie Hohner. Sie hatte den Geschädigten auf der Intensivstation untersucht und mithilfe der Klinikunterlagen zahlreiche Verletzungen dokumentiert: Der junge Mann hatte unter anderem durch den Sturz einen Leberanriss, einen Oberschenkelbruch, einen Beckenbruch, einen Bruch des Handgelenks und einen Schock erlitten. Die Verletzungen seien „konkret lebensgefährlich“ gewesen, so die Sachverständige.

Die Verhandlung wird am Mittwoch, 22. Oktober, fortgesetzt.

Die Verletzungen durch den Sturz aus dem Fenster waren konkret lebensgefährlich. Dr. Melanie Hohner Rechtsmedizinerin

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