Jürgen Schröder-Wieschollek wird 90

  • Jürgen Schröder-Wieschollek Foto: Theo Andes

Geburtstag Am 3. Mai wird der Tübinger Literaturwissenschaftler 90 Jahre alt. Zwei Kollegen erinnern sich an den Professor.

Wir Germanisten haben ja nichts gelernt außer ein bisschen lesen und schreiben“, sagte auf einem Spaziergang Jürgen Schröder-Wieschollek zum Autor dieses Textes, der damals, in den 1980er Jahren, sein Assistent war. Was der Tübinger Schröder-Wieschollek, Nachfolger auf dem Lehrstuhl Klaus Zieglers, nicht nur ein bisschen konnte, sondern in hohem Maße beherrschte, hatte er schon in seiner Freiburger Dissertation über Georg Büchners „verkehrte Komödie Leonce und Lena“ bewiesen. Büchners Lustspiel wurde in „Dantons Tod“ hineingespiegelt und enthüllte sich auf eine Weise, dass der Doyen der Büchnerforschung, Hans Mayer, der seine letzte Lebenszeit in Tübingen verbrachte, sein Urteil über Büchners Text revidieren musste.

Der spätere Assistent hatte als Student in Freiburg einen Vortrag Schröder-Wiescholleks über „Hören und Sehen“ bei Lessing gehört. Dieser Titel enthielt das Programm der Beschreibungspoetik des späteren Tübinger Ordinarius. Schröder-Wieschollek hörte den Text als Stimme und nahm ihn als Körper wahr. Die Freiburger Habilitationsschrift über Lessing bezeugte dies 1969 – als Aufklärung, die weit über das hinaussprach, was manche der sogenannten 1968er gerne aus der Germanistik gemacht hätten. Jürgen Schröder-Wieschollek stand als wahrer Re-Visionär an der Seite der Dichter. Das zeigte mit Nachdruck seine dritte Monografie, über Gottfried Benn, dessen Briefe an Oelze er mit herausgegeben hatte. Mit diesem Buch wurde er zur Solostimme der Benn-Forschung.

Methode? Eine eigensinnige Tiefenhermeneutik, die er nicht als begrifflichen Bauchladen vor sich hertragen musste. Schröder-Wieschollek spürte in den Texten deren Vorgeschichten, geheime Geschichten, Gegengeschichten auf – als brüderlicher Exeget des Autors. Kein Zufall, dass er mit dem Dichter Elias Canetti befreundet war, von dem er unlängst einen Stapel unpublizierter Briefe zu einer Vortragsveranstaltung in Tübingen mitbrachte. So auch ließ ihn ein genau verstehender Blick die Hintergründe eines Dramenfragments von Ödön von Horváth aufdecken.

Dichtung, Literatur wurde ihm in der Helligkeit seines Verstehens zur konzentriertesten und komplexesten Form der Geschichtsschreibung. Seine großen Vorlesungen über deutsche Geschichtsdramen von Goethes ‚Götz‘ bis zu Heiner Müllers ‚Germania‘ mündeten nach Jahren in ein Buch, das auch heute noch nichts von seiner Erkenntnisfrische verloren hat, ebenso wenig wie seine letzte Monografie über ‚Deutschland als Gedicht‘. Zahlreiche Aufsätze haben den Zauber der genauen Momentaufnahme. Man lese nur seinen frühen Essay über Robert Musils dichterische Quantenmechanik.

Gibt es ein Geheimnis des Schröderschen Schreibens? Dass er dem Text als Körper dessen eigenes Innenleben ausleuchten konnte, liegt vielleicht an seinem eigenen Verhältnis zum Körperlichen. Schröder war ein leidenschaftlicher Sportler, sein Assistent weniger. Aber beide lieben sie Nietzsches Wort, wonach keinem Gedanken zu trauen sei, bei dem nicht auch die Muskeln ein Fest gefeiert haben. In der Brechtbau-Mannschaft war Schröder über Jahrzehnte eine feste Stütze und eilte mit ihr von Sieg zu Sieg. In Lustnau trainierte er lange Jahre eine Jugendmannschaft. Und noch vor kurzem sah man ihm im E-Bike durch die Kastanienallee in Richtung Freibad brausen.

Man musste gut schreiben können, um Schröders Sympathie zu gewinnen. Die Habilitationsschrift seines Schülers kommentierte er mit den Worten: „Der zweite Teil träumt mehr vom ersten als er von ihm weiß.“ Das ist seine Art, Zustimmung in einen ironischen Vorbehalt zu hüllen. Ein Erbe seiner eigenen Schülerschaft beim Freiburger Germanisten Gerhart Baumann? – Eine Endstation der Freiburger Straßenbahn trägt den Namen Sternwald. Wir möchten ihn zur Chiffre der Schröderschen Textlesekunst erklären; unten die Wege, auch die sich verlierenden, kaum mehr zumutbaren, nur mit Risiko zu begehen als Herausforderung des genauen Blicks. Oben aber die Sternbilder, dieses Glück einer erhellenden Lesekunst, die in alle Verrätselungen hineinscheint.

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