„Ich nehme es als Herausforderung“

  • „Alte Musik und neue haben einander viel zu sagen“: Nicolas Hodges. Foto: Carolin Albers

Porträt Der Tübinger Pianist Nicolas Hodges lebt seit zehn Jahren mit Parkinson. Im Gespräch mit dem TAGBLATT erzählt er, wie er mit der Erkrankung zurechtkommt – und was Beethoven mit Wurstsalat zu tun hat.

Er setzt sich auch ans Klavier, wenn es ihm nicht gut geht, auch dann, wenn der Tremor sehr stark ist. „Ich nehme es als Herausforderung“, sagt Nicolas Hodges. Durch die Motorik werde sein Gehirn geweckt. „Ich habe den Eindruck, dass es das Gehirn gesünder macht.“ Es sei schmerzhaft, in einem solchen Moment am Klavier zu sitzen, erklärt er, nicht physisch, sondern emotional. „Weil ich dann face to face mit meiner Krankheit bin.“ Aber wenn er dann trotzdem gut spiele, motiviere ihn das extrem. „Ich kämpfe sehr viel“, sagt Hodges. „Ich kämpfe nicht, um nicht zu verlieren, sondern um zu gewinnen.“

Mehr als 70 CDs eingespielt

Der Pianist Nicolas Hodges ist vor allem als Interpret zeitgenössischer Musik bekannt. Kürzlich habe er für seine neue Homepage eine Auflistung sämtlicher CDs zusammenstellen wollen, die er in seiner Karriere eingespielt hat, erzählt er. Es sind mehr als 70. An Parkinson leidet Hodges seit etwa zehn Jahren. Öffentlich machte er die Erkrankung vor zwei Jahren. „Manche wussten es, andere nicht, es gab Gerüchte und ich wollte Klarheit schaffen“, sagt er. „Ich hoffe, dass das auch andere Leute motiviert, offen damit umzugehen.“ Dass er seinen Beruf weiterhin ausüben kann, daran habe er nie Zweifel gehabt. Aber es sei eben abhängig von der Medizin. Mit Medikamenten sei es wie vor zehn Jahren.

Im Jahr 2005 zog Hodges von England nach Deutschland wegen einer Professur an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, wo er heute immer noch unterrichtet. Seit zweieinhalb Jahren lebt Hodges mit seiner Familie in Tübingen, davor wohnte er in Marbach. Und warum hat er sich für Tübingen entschieden? „Ich wollte ein Dichter-Upgrade“, sagt der 55-Jährige und lacht: „von Schiller zu Hölderlin“. Und welcher ist der bessere Dichter, der Marbacher oder der Tübinger? „Dazu sage ich lieber nichts.“ Seine Frau habe sich in die Stadt verliebt, sie sei mit den Kindern zuvor schon oft in Tübingen gewesen. „Wir sind sehr glücklich hier.“

„Nach Deutschland wollte ich immer ziehen“, erzählt Hodges. „Wegen der Musiktradition.“ Mit 13 Jahren forderte er Deutschunterricht von den Eltern. Bekam er aber nicht. „Deswegen ist mein Deutsch so schlecht.“ Es waren Brahms, Bach und Beethoven, weswegen er als Jugendlicher nach Deutschland wollte. Längst ist er spezialisiert auf das 20. Jahrhundert und zeitgenössische Musik. Klassik und Romantik spiele er aber immer noch. „Alte Musik und neue haben einander viel zu sagen“, sagt er. Als sie geschrieben wurde, sei alte Musik schließlich auch neue Musik gewesen.

Am Samstag, 11. Oktober, spielt Hodges ein Doppelkonzert mit dem Pianisten Michael Wendeberg in Tübingen. Auf dem Programm steht Boulez, unter anderem „Structures II“. Gespielt habe er das zum ersten Mal mit 16 Jahren in einem Schulkonzert, erinnert sich Hodges. „Ich hatte keine Interessen, nur Musik.“ Schon im Alter von 18 Jahren verfügte er über ein enormes Repertoire quer durch das 20. Jahrhundert mit Werken von Schönberg, Webern, Boulez, Stockhausen und Cage. Ein ungewöhnlicher Schwerpunkt für einen Teenager, oder? „Mit 16 liest man ja auch ernste Bücher“, antwortet Hodges. „Warum nicht auch ernste Musik, Musik, die etwas über unsere Zeit aussagt.“ An Boulez fasziniere ihn die Tiefe. „Es ist nicht nur ein oberflächlich schöner Klang.“ Auf dem Programm steht am Samstag außerdem „Chanson d’approche“ der 99-jährigen Komponistin Betsy Jolas, eine deutsche Erstaufführung. „Sie ist die einzige Freundin von mir, die James Joyce kennengelernt hat“, erzählt Hodges. Das Stück hat sphärische Stimmung, suchend und rastlos, schwer greifbar. „Ich mag das sehr“, sagt Hodges. Kürzlich hat er es für eine CD-Produktion eingespielt. „Alle waren beeindruckt, weil das Stück so stark ist.“ Nur wenige Korrekturen seien notwendig gewesen, der erste Take war es. Die CD erscheint im Oktober.

Es braucht auch Abwechslung

Das Publikum, das man mit Neuer Musik erreicht, ist in der Regel überschaubar. „Ja, aber es gibt von Beethoven nur eine bestimmte Menge an Musik, man muss auch mal etwas anderes hören“, sagt Hodges. „Sonst ist es wie jeden Tag Wurstsalat, es braucht ja auch Abwechslung.“ Er lacht und ergänzt: „Beethoven mit Wurstsalat zu vergleichen, das ist ein bisschen gemein. Er ist eher wie Beefsteak, das beste Beefsteak selbstverständlich, nie Wurstsalat.“ Und mit was lässt sich das Programm für das Konzert am Samstag vergleichen? „Sushi vielleicht. Etwas anderes, etwas, das manche nicht mögen, aber vielleicht dennoch interessant finden.“

Seine Erkrankung halte ihn nicht davon ab, weiterzumachen, sagt Hodges. Er spielt Konzerte und macht CDs. Seine Aufnahmen von Rebecca Saunders, André Boucourechliev, James Clarke, Rolf Riehm haben 2023 den Preis der deutschen Schallplattenkritik erhalten. „Die Krankheit hat nichts an meiner Musikalität geändert oder meine künstlerische Energie beeinträchtigt“, sagt er. Von Musik sei er immer noch besessen. „Ich liebe die Musik immer noch so sehr wie vorher, nichts wird das ändern, keine Krankheit.“

Ich kämpfe nicht, um nicht zu verlieren, sondern um zu gewinnen. Nicolas Hodges Musiker

Ich hoffe, dass das auch andere Leute motiviert, offen damit umzugehen. Nicolas Hodges Pianist

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