Die Hand sagt mehr als Worte

  • Ein Schwur aus dem Jahr 1969: Bundeskanzler Willy Brandt legt nach seiner Wahl vor Bundestagspräsident Kai Uwe von Hassel im Bundestag in Bonn seinen Amtseid ab. dpa

Gelübde Delfine lügen nicht, Menschen schon. Deshalb schwören wir. Warum der Amtseid, den der künftige Bundeskanzler bald leistet, auch heute noch Sinn ergibt.

Es ist nur ein Satz, aber an ihm hängt viel. Nachdem der Bundestag Friedrich Merz am 6. Mai 2025 erwartungsgemäß zum Kanzler gewählt und ihn der Bundespräsident ernannt hat, muss der Gekürte die Hand heben, um den Amtseid abzulegen. Als Vorsitzender einer nominell christlichen Partei wird der designierte Regierungschef das Antrittsgelübde vermutlich mit der Formel „So wahr mir Gott helfe“ beenden.

Heute ist die religiöse Beteuerung nicht mehr zwingend vorgeschrieben; Gerhard Schröder verzichtete als erster Kanzler darauf. Doch seit es ihn gibt, berührt der Eid Fragen des Glaubens. Bereits antike Kulturen verknüpften den Schwur mit der Anrufung höherer Wesen. Beim Jupiter! Dabei spielte es keine Rolle, ob anlässlich großer Staatsaktionen oder bei Gericht geschworen wurde. Allerdings unterscheidet die Rechtskunde zwischen einem assertorischen Eid (der Bestätigung einer Zeugenaussage) und einem promissorischen Eid, also der Verpflichtung, in Zukunft bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Hierzu gehören die politischen Eide.

Den hohen Maßstab, den das Altertum an die Institution des Schwurs legte, verrät nicht zuletzt die Strafe für dessen Bruch. Auf Meineid stand der Tod. Eine derart harte Konsequenz ruft in Erinnerung, wie grundlegend die menschliche Sprache mit ethischen Aspekten zusammenhängt. Lange galt die Gabe der Rede als Hauptmerkmal, das Mensch und Tier unterscheidet. Seit Forschende die Ansicht vertreten, dass auch die Kommunikation von Delfinen und Walen als Sprache bezeichnet werden kann, wankt diese alte Überzeugung der Humanwissenschaften.

Nicht die Sprache trennt den Homo sapiens vom Tier, sondern ihr absichtlicher Missbrauch. Meeressäuger lügen nicht – anders als Menschen. Dass man sich nicht unbedingt an seine Worte hält, ist die linguistische Ursünde. So erblickt der italienische Philosoph Giorgio Agamben im Eid den Versuch, „eine der Sprache selbst inhärente Gebrechlichkeit“ auszugleichen.

Die Tatsache, dass jede getätigte Äußerung auch unwahr sein könnte, hat zur Erfindung des Eids geführt. Angesichts unserer fälschungsanfälligen Sprache stellt er eine zusätzliche Sicherungsebene dar. Gewiss, ein „unbrechbarer Schwur“ existiert nur bei Harry Potter. Gleichwohl erhöht das streng reglementierte Gelöbnis den Druck, bei der Wahrheit zu bleiben. Während das mythische Denken Lügenmäulern mit Tod durch Blitzschlag drohte, beschränkt man sich heute vor allem auf die soziale oder juristische Sanktion des Wortbrüchigen.

Wer „Ich schwöre“ sagt, tätigt oft mehr als eine verbale Äußerung. Früher wurde der Körper selbst zum Garanten für die Ernsthaftigkeit des gesprochenen Worts. Hieraus resultiert die Redewendung „die Hand ins Feuer legen“. Von den historischen Bekräftigungsritualen ist etwa die Geste der erhobenen Schwurhand geblieben. Eine weitere archaische Praxis bestand darin, dass der Schwörende beim Sprechen seine Hand auf die Genitalien legte. Auch dieses Zeremoniell wirkt im modernen Sprachgebrauch fort. Die Wörter „Testierfähigkeit“ oder „Testat“ leiten sich von testes, dem lateinischen Wort für Hoden, ab. Salopp gesagt: Wer schwört, braucht Eier.

Lange nahm die Öffentlichkeit den staatlichen Treueschwur als unzeitgemäß wahr. Mit Gustav Heinemann dachte sogar einmal ein ehemaliger Bundespräsident über dessen Abschaffung nach. Der Eid sei, selbst ohne sakralen Zusatz, weiterhin so stark religiös geprägt, dass er in einer säkularen Welt keinen Platz mehr habe. Doch im Jahr 2025, in dem eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Partei die stärkste Oppositionskraft im Deutschen Bundestag darstellt, liegen die Dinge anders.

Zeichen gegen Fake-News

Der politische Eid ist zwar in Deutschland nicht strafbewehrt, aber in höchstem Maße symbolisch: Er drückt aus, dass zumindest noch die Möglichkeit eines verbindlichen Sprechens existiert. Insofern setzt das Schwören auch ein Zeichen gegen den ausufernden Fake-News-Sumpf. Und gegen eine rechtspopulistische Strategie aus Provozieren und Relativieren, die mit den Doppeldeutigkeiten der eigenen Rede arbeitet. Öffentliches Lügen reißt das Tor zum Totalitarismus auf – diese These der jüdischen Denkerin Hannah Arendt bestätigt sich gerade jeden Tag. Nicht nur in den USA, deren Präsident mit Falschaussagen und irrlichternden Ankündigungen sein Amt selbst beschädigt.

Aus gutem Grund erinnert die Loyalitätsbekundung des Bundeskanzlers daran, dass gesellschaftliches Miteinander auf den festen Füßen der Wahrheit stehen muss. Dieselbe Meinung vertrat schon der griechische Gesetzgeber Lykurg: „Der Eid ist das, was die Demokratie zusammenhält.“

Das Schwören ist auch ein Zeichen gegen den ausufernden Fake-News-Sumpf.

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