Reg dich nicht so auf!

  • Dominik Guggemos. Florian Gaertner/photothek.de

Pluralismus ist die Grundlage unserer Demokratie – und des Fortschritts. Warum wir dafür auch Debatten aushalten müssen, die nicht wohlgeordnet und gesittet sind.

Für viele lässt sich das Ausmaß, in dem die deutsche Demokratie gefährdet ist, an den Wahl- und Umfrageergebnissen für die AfD messen. Das Problem dieser Sichtweise: Längst nicht jeder AfD-Sympathisant lehnt das Grundgesetz oder gar die Demokratie ab. Ein besserer Indikator ist da schon die Frage nach den entsprechenden Einstellungen, wie sie zum Beispiel die Leipziger Autoritarismus-Studie alle zwei Jahre abfragt.

Die gute Nachricht vorweg: Die Anzahl der Menschen, die glauben, dass Deutschland eine einzige starke Partei braucht, welche die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert, ist zwischen 2018 und 2024 spürbar zurückgegangen. Die schlechte Nachricht: Knapp 18 Prozent der Befragten stimmen ihr zu – und nur gut 60 Prozent lehnen sie klar ab. Diese These ist deswegen interessant, weil sie losgelöst von der NS-Diktatur nach der Akzeptanz des Pluralismus hierzulande fragt, nach der Meinungsvielfalt, die das Fundament der Demokratie bildet. Friedrich Merz hat in seiner „Dann doch keine Ruck-Rede“ zum Tag der Einheit zuerst die Meinungsvielfalt genannt, als er die Frage zu beantworten versuchte, was für ein Land wir sein wollen. Zugleich warnte der Kanzler angesichts des emotional aufgeladenen und sprachsensiblen Klimas in der Gesellschaft, dass diese Auseinandersetzung nicht wohlgeordnet und nicht immer gesittet sei. Trotzdem seien diese Debatten „die Voraussetzung für jeden Fortschritt“. Womit er recht hat.

Wie schwer sich die Mitte der Gesellschaft im Moment mit krawalligen Aussagen tut, kann Merz wenige Wochen nach seiner Rede aus der ersten Reihe beobachten, Stichwort: Stadtbild. Und ja, klar, Merz hätte von Anfang an deutlicher machen können, worum es ihm konkret geht. Zu viel verlangt wäre das von einem Spitzenpolitiker nicht. Aber: Ist es denn umgekehrt von den Parteien links der Mitte zu viel verlangt, Merz nicht direkt die bösest mögliche Interpretation zu unterstellen – also ein Blut-und-Boden-Rassismus, für den alle ausländisch aussehenden Menschen ein Problem darstellen – nur weil es kurzfristig vielleicht die eigene Blase emotionalisiert?

Man kann sich durchaus mehr gesittete Diskussionen wünschen, aber in einer Gesellschaft, in der Umfragen zufolge über ein Drittel der Wähler entweder eine Partei am linken oder am rechten Rand wählen wollen – Parteien also, die von harten Zuspitzungen leben –, dürfte der Wunsch da Vater des Gedankens bleiben. Besser wäre es, sich nicht so schnell aufzuregen und dem Krawall entspannter zu begegnen.

So neu, wie es manchen vorkommt, ist das alles auch nicht. Willy Brandt wird als Friedensnobelpreisträger über die Parteigrenzen hinweg geschätzt. Aber er sagte auch über den ebenso respektierten Heiner Geißler: „seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land.“ Grünen-Ikone Joschka Fischer nannte den Bundestagspräsidenten ein „Arschloch“.

Dem Land hat der Krawall damals jedenfalls nicht langfristig geschadet. Viel teurer wäre es, die Meinungsvielfalt aufs Spiel zu setzen, weil einem nicht gefällt, wie ein Argument vorgetragen wird.

leitartikel@swp.de

Krawall schadet nicht zwingend. Viel teurer wäre es, die Vielfalt aufs Spiel zusetzen, weil der Ton nicht gefällt.

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