Roman

  • Cover © Kiepenheuer & Witsch, Köln

Bei geschlossener Terrassentür wäre das alles kaum ins Schlafzimmer des Canto das Baleias gedrungen, dem neuen Zuhause von Soraia und Leander am westlichen Rand von Fuseta, einem kleinen Fischerdorf, das sich in vielerlei Hinsicht noch im Dornröschenschlaf befand.

Im Gegensatz zu Soraia, die wegen des frühmorgendlichen Konzerts seufzte und sich in der wenig aussichtsreichen Hoffnung auf die andere Seite drehte, um in dieser Position vielleicht schneller zurück in den Schlaf zu finden. Leander, der auf dem Rücken neben ihr lag und die Augen geschlossen hatte, lächelte leicht.

All das – erst die Hähne, dann die Hunde – ereignete sich hier morgens in verlässlicher Regelmäßigkeit. Genau das liebte Leander Lost und ließ ihn zufrieden lächeln. Er schätzte diese Verlässlichkeit von Abläufen und festen Routinen, die dem Alltag Ordnung verliehen. Und ihm Halt und Orientierung boten.

Leander Lost war imstande, eine hohe Flexibilität an den Tag zu legen, wenn es die Situation erforderte. Er war Sub-Inspetor der portugiesischen Kriminalpolizei, der Polícia Judiciária mit Sitz in Faro an der Algarve, und in seiner Dienstzeit war er des Öfteren mit Situationen konfrontiert, die sich nicht vorab planen oder vorhersehen ließen.

Bisher hatte er die Mehrzahl davon meistern können, aber es kostete ihn enorm viel Konzentration und Anstrengung, ein stiller Kraftakt, der von der Außenwelt in der Regel unbemerkt blieb.

Jetzt, als er einen warmen, feuchten Kuss auf seiner nackten Schulter spürte, öffnete er die Augen und blickte zur Seite – Soraia, die nicht schlafen konnte und sich an ihn schmiegte. Ihre Haut roch nach Paprika. Und als sie ihn verschlafen anlächelte, bildeten sich Grübchen in ihrem Gesicht.

Sein Faible für Grübchen würde Leander Lost zeit seines Lebens ein Rätsel bleiben. Irrational, nicht nachvollziehbar, evolutionär ohne jede Bedeutung. Und gerade deshalb so faszinierend. Magie vielleicht, auch wenn das ein Begriff war, der sich in Losts von Ratio und Logik geprägter Weltsicht nicht in in dessen aktivem Wortschatz befand.

In Soraias dagegen schon. Sie fühlte sich unfähig, die Anziehungskraft, die Lost auf sie ausübte, in Worte zu fassen, geschweige denn zu begründen. Obwohl sie als Kindergärtnerin eigentlich genug Routine und Behutsamkeit mitbrachte, um den Kindern die Welt altersgerecht zu erklären. Und damit auch all das, was auf die Kleinen wie ein Wunder oder ein Mysterium wirken musste: Warum schweben Schnee­flocken? Wie weinen Delfine?

Manche Erklärungen rauben den Dingen ihren Zauber, hatte ihre Mutter ihr gesagt, als sie noch klein war.

Und genau das beherzigte sie jetzt und küsste Leander erneut. Dieses Mal auf den Hals.

Wortlos nahmen sie sich in die Arme und genossen die Berührung und den vertrauten Geruch des jeweils anderen.

Um 5 : 20 Uhr, wusste Leander, würden die Flüge von Faro aus starten.

Die Abflug- und Einflugschneise verlief unter anderem über Fuseta und Moncarapacho.

5 : 20 Uhr: Abflug Easyjet 2409 nach Genf. 5 : 45 Uhr: Abflug Ryanair 2306 nach Dublin. 6 : 05 Uhr: Ankunft Eurowings 1208 aus London. 6 : 10 Uhr: Ankunft Ryanair 1908 aus Birmingham. 6 : 30 Uhr: Abflug Vueling 0412 nach Barcelona. Und so weiter.

Leander hatte jede Uhrzeit, Fluggesellschaft und jeden Abflug- oder Zielflughafen in seinem Gedächtnis hinterlegt. Der Tag nahm die bekannten Konturen an, was ihn entspannte.

Soraia umarmte ihn nun fester, ihr Mund fand seinen.

Und ja: Bei dem langsamen, zärtlichen Kuss durchflutete ihn dabei noch immer das Gefühl wie bei der allerersten Berührung ihrer Lippen: Als spritzte ihm jemand Kontrastmittel, das Leander wie eine warme Welle durchströmte, die an Zehen und Fingerkuppen zurückgeworfen wurde und angenehm von innen über die Schädeldecke strich.

Schön!

Um 7 : 49 Uhr wurde Maria Bento entführt.

3

Ameisen sind die besten Lehrmeister in puncto Gründlichkeit.

Matildas Großvater hatte es ihr immer wieder gesagt.

Fortsetzung folgt

© Kiepenheuer & Witsch, Köln

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