Grenzüberschreitungen und Weberknechte
Schwäbisch Hall. Es ist gleich eine doppelte Premiere: Noch nie zuvor hat der Berliner Autor, der vier Wochen lang auf der Großcomburg residieren darf, eine Lesung mit Musik kombiniert. An diesem Abend im Pub des Schwäbisch Haller Goethe-Instituts liest er abwechselnd oder auch während sein Freund Henry Mex am Kontrabass Töne spielt.
Zweite Premiere ist dieser Ort. Im Rahmen von Literatur Live war man noch nie im Goethe-Pub. Der Ort mit der Gewölbedecke ist urig beleuchtet, es stehen zwei gemütliche Sofas im Raum, die Barfrau schenkt Wein aus. Es werden weitere Stühle hereingetragen, denn es kommen rund 40 Gäste.
Die Lesung ist eine Kooperationsveranstaltung von Kulturbüro, Goethe-Institut und der interkulturellen Woche in Hall. „Wir werden eine Dreiviertelstunde lesen und musizieren. Da wir dabei eine gewisse Spannung erzeugen, wäre es schön, falls Sie einen unbändigen Applaus-Wunsch haben, den zu unterdrücken“, beginnt Matthias Nawrat. Sein Humor scheint ihm in diesem Moment selbst etwas fremd zu sein.
Jedenfalls erzeugt er mit diesen Worten Spannung. Was wird die Zuhörenden erwarten? Der Berliner Autor, der als Zehnjähriger mit seiner Familie aus Polen nach Bamberg emigrierte, liest aus dem Band „Gebete für meine Vorfahren“. „Ich bin nicht religiös, aber die Form von Gebeten gefällt mir. Es wird etwas irgendwohin geschickt mit einer Sehnsucht.“
Nawrat ist ein Beobachter
Seine Sehnsucht scheint die einer besseren, einer anderen Welt zu sein. Nawrat ist ein Beobachter. Er sieht den „weißhaarigen früheren Angestellten der Stadtwerke, in Hose und Weste mit grünem Camouflage-Muster, mit vielen praktischen Taschen, die Angel im Futteral über der Schulter“ ebenso wie „den Cousin, der die Kinder morgens zur Sommerfreizeit fährt, vor seinem Arbeitstag bei Toyota am Stadtrand, wo er zuständig ist für das Gebiet Süd“.
Begleitet werden die Bilder, die er schafft, durch einzelne Töne des Kontrabasses, Klopfen auf die Saiten oder direkt aufs Holz. Manchmal spricht Henry Mex dazu einzelne Silben: „Pa-ko-ta-te-ko-pe“.
Dunkel ist die Atmosphäre, die die beiden erzeugen. Denn die Texte Matthias Nawrats zeigen eine Welt, die nicht nur schön ist. Oft drehen sich seine „Gebete“ um die Vergangenheit seiner Familie, und den Drang nach einem anderen und besseren Leben in Westdeutschland, darum, dass es zunächst ein schwieriges Leben ist. „Ein Grenzübertritt ist eine Veränderung. Man muss sich Identitätsfragen stellen“, sagt Nawrat hinterher im Interview mit Goethe-Instituts-Leiterin Svenja Hecklau-Brümmer.
Aber auch die Natur hat Raum in seiner Lyrik. Die Amsel, deren Gesang auf Tonband aufgenommen wird. Der Weberknecht, der hinter dem Sofa hervorkommt und nicht fähig ist, Spinnennetze zu knüpfen.
Und immer wieder geht es um die Familie: „Wenn ich zu Besuch bin, atmet sie (die Mutter) zufrieden aus. Mit Erdbeerkuchen auf dem Teller, die Knie angezogen, sitzt sie auf dem Sofa. Das System im Gleichgewicht.“
Lesung Comburgstipendiat Matthias Nawrat liest im Haller Goethe-Pub Gedichte mit Musik.