Gedanken zum 9. November
Erinnerung Vier Schülerinnen der Eugen-Grimminger-Schule teilen ihre Gedanken zur Pogromnacht. Mit Christiane Pappenscheller-Simon und Lehrerin Kübra Yandakci bereiten sie die Gedenkveranstaltung vor.
Der 9. November ist ein Datum, das es aus mehreren Gründen ins kollektive Gedächtnis der Deutschen geschafft hat. 1938 brannten Synagogen, jüdische Geschäfte wurden zerstört, Menschen gedemütigt, verschleppt und ermordet. Was sagt dieses Datum jungen Menschen heute? Rund zweieinhalb Jahre haben vier Schülerinnen eines Sprechspiel-Projekts an der Eugen-Grimminger-Schule (EGS) ihre Gedanken dazu notiert, verworfen und durch Quellenarbeit immer wieder neu justiert. Herausgekommen sind bemerkenswerte, eindringliche Texte, die heuer bei der Crailsheimer Gedenkveranstaltung zum 9. November präsentiert werden. Im Grunde geht es um die essenzielle Frage: Wer sind wir – und wer wollen wir sein? Unterstützung erhielten die vier jungen Frauen von Lehrerin Kübra Yandakci und Christiane Pappenscheller-Simon.
Die Verfassung als Kompass
Sina Wankmüller und Finja Burkhardt beginnen nicht mit der Geschichte, sondern mit dem Fundament unserer Gegenwart: dem Grundgesetz. Ihre sachliche Rezitation der Artikel 1 und 3 wirkt wie eine Beschwörung. Und sie mündet in die Frage, was das Menschsein bedeutet. Sina Wankmüller liefert keine einfachen Antworten. Sie spannt einen Bogen von Liebe und Solidarität bis zu Hass und Gewalt und verorten die Pogromnacht von 1938 auf der dunkelsten Seite des Menschseins. Wankmüllers Mahnung ist direkt und persönlich und sie richtet sich an ihre Zeitgenossen: Bedeutet Menschsein, gleichgültig zu sein, Mitläufer zu werden, oder steht es für Zivilcourage, Mitgefühl und Verantwortung? Es reicht nicht, zu sagen: „So etwas darf nie wieder passieren“, fasst die junge Gerabronnerin ihre Erkenntnisse zusammen. „Menschsein bedeutet, es aktiv zu verhindern.“
Eine Geschichte aus dem Dunkel
Tatjana Schott fügt ein konkretes, historisches Beispiel an, das Leid und Widerstandskraft gleichermaßen verkörpert. Sie erzählt die Geschichte des jüdischen Dichters Ossip Mandelstam, der in Stalins Sowjetunion kritische Gedichte schrieb – „Worte, die kaum jemand laut auszusprechen wagte.“ Dafür wurde er verhaftet. Er überlebte das Lager nicht.
Doch Tatjana Schott belässt es nicht beim Opfer. Sie lenkt den Blick auf die mutige Entscheidung einer Einzelnen: „Es ist auch die Geschichte seiner Frau, Nadeschda Mandelstam. Sie riskierte ihr Leben, um die Werke ihres Mannes zu retten.“ Indem sie Manuskripte versteckte, unter anderem in Töpfen, und Gedichte auswendig lernte, so Schott, bewahrte sie „das Licht der Menschlichkeit in finsterster Zeit“. Diese historische Parallele zieht sie in die Jetztzeit: „Wir sehen, wie schnell Hass wächst, wenn niemand widerspricht. Wir sehen, wie Schweigen Gewalt ermöglicht.“ Für sie ist Erinnerung aktive Verantwortung: „Es geht nicht um Schuld, sondern um Lehren.“
Bruch mit bequemer Distanz
Den vielleicht provokantesten und direktesten Beitrag liefert Sofie Kottysch. Sie blickt auf alltäglichen Antisemitismus, Hass gegen Islam und Hass gegen Ausländer. „Aber das sind nicht wir“: Schnell und schonungslos zerlegt sie diese bequeme Haltung. „Es ist schon mal passiert, hier, in Deutschland. Und es kann wieder passieren.“ Ihre zentrale, unerbittliche Erkenntnis lautet: „Es waren keine anderen Menschen, als wir es jetzt auch sind.“ Kottysch benennt die Gefahren unserer Zeit unverblümt: Extremisten in Parlamenten, Diktatoren, die demokratisch gewählt werden, und eine Welt, „in der Gefühle mehr zählen als Fakten“. Ihr Appell ist ein kämpferischer Aufruf zum Handeln: „Demokratie bedeutet, die Macht liegt bei uns.“ „Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“, sagt sie: „Lasst uns hinschauen. Lasst uns aufstehen. Und uns trauen, etwas zu sagen.“ Ihr Text endet mit dem schlichten, aber gewichtigen Fazit: „Das ist unsere Verantwortung.“
Lehrerin Kübra Yandakci freut sich sehr darüber, dass die jungen Frauen eigene Worte für Ausgrenzung, Macht und Gewalt gefunden und damit die Aktualität des vermeintlich längst Vergangenen herausgearbeitet haben. Christiane Pappenscheller-Simon ist überzeugt: Erinnerung braucht junge Stimmen. Als Vorsitzende der städtischen Initiative „Erinnerung und Verantwortung“ liege es ihr „am Herzen, jungen Menschen das Gedenken an unsere Zeit des Nationalsozialismus nahezubringen“. Die Zusammenarbeit mit Schulen, insbesondere mit der Eugen-Grimminger-Schule, sei ihr besonders wichtig – und die jährliche Gedenkfeier der Stadt zum 9. November 1938 eine wertvolle Gelegenheit.
Ein Chor der Erinnerung
Zweieinhalb Jahre des Nachdenkens haben einen vierstimmigen Chor geschaffen, der in seiner Gesamtheit mehr ist als die Summe seiner Teile. Er ist eine Aufforderung, das Menschsein als aktive Entscheidung zu begreifen – gegen Gleichgültigkeit, gegen Hass und für Zivilcourage, Erinnerung und eine wehrhafte Demokratie. Die Schülerinnen haben ihre Lektion aus der Geschichte gelernt.
Info Das Sprechtheater der EGS wird am 9. November, um 18.30 Uhr am Platz der früheren Crailsheimer Synagoge in der Adam-Weiß-Straße aufgeführt.