Eine Familiengeschichte, die unter die Haut geht
Münsingen Ein Karton voller Feldpostbriefe inspirierte Reinhold Beckmann zu „Aenne und ihre Brüder“. Am 24. Oktober liest er in der Zehntscheuer aus seinem Buch.
Am Freitag, 24. Oktober, macht Reinhold Beckmann auf seiner Lesetour Station in Münsingen. Das Städtchen ist für ihn ein Ort, den er bislang nicht kannte, den er aber nun neugierig erkunden möchte. „Mein Gitarrist Johannes Wennrich und ich wollen unbedingt einen Spaziergang machen, ich freue mich darauf. Ich lerne Deutschland durch die Lesungen ganz neu kennen.“
Der frühere Sportjournalist und langjährige Talkmaster der ARD hat mit „Aenne und ihre Brüder – Die Geschichte meiner Mutter“ ein sehr persönliches Buch geschrieben und damit tausende Menschen berührt. 126 Lesungen hat er inzwischen gegeben, meist vor ausverkauften Häusern. In Köln kamen 1000 Menschen, in Hamburg waren es sogar mehr. Darüber hinaus stand das Buch monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Mit dieser Resonanz habe er nie gerechnet. „Es war mir nicht bewusst, dass es in vielen Familien so ein großes Bedürfnis gibt, Antworten zu finden“, betont der 69-Jährige.
Viele Menschen berichten nach den Lesungen, dass bei ihnen nie über all das Geschehene geredet wurde, erzählt Beckmann. Aber Wegschweigen sei eben keine Lösung. In seinem Buch erzählt er die bewegende Geschichte seiner Mutter Aenne, die in einem katholisch geprägten Dorf in Niedersachsen aufwuchs und ihre Brüder Franz, Hans, Alfons und Willi im Krieg verlor. Ihre eigene Mutter starb im Wochenbett, der Vater kurze Zeit später, mit fünf Jahren war sie bereits Vollwaise. Eine Familie, zerrissen durch Krieg und Verlust. Dass Aenne über ihr Schicksal sprach, war in ihrer Generation eine Ausnahme. „Ich bewundere meine Mutter, dass sie trotz des großen Verlustes ein eigenständiges Leben aufgebaut hat“, sagt Beckmann.
Ihre Erzählungen, ergänzt durch einen Karton mit rund 100 Feldpostbriefen ihrer Brüder, wurden zur Grundlage des Buchs. „Ich habe lange gezögert, das aufzuschreiben“, gesteht er. Nachdem Reinhold Beckmann jedoch im Jahr 2021 den Song „Vier Brüder“ bei der zentralen Gedenkstunde zum Volkstrauertag im Deutschen Bundestag gesungen hatte, kamen drei Buchverlage auf ihn zu, ob er diese Geschichte nicht veröffentlichen wolle. Dann war klar: jetzt oder nie.
Ein halbes Jahr verbrachte er in Wellingholzhausen am Rande des Teutoburger Waldes, sprach mit Historikern, Nachbarn, suchte Spuren. Die Arbeit dauerte insgesamt anderthalb Jahre. „Zwei Tage vor Weihnachten war ich fertig – mit dem Buch und auch mental. Ich war völlig erschöpft.“, sagt er. „Ich habe vieles über meine Familie und meine Onkel herausgefunden, das ich vorher nicht wusste.“ Das macht freilich was mit einem.
Die Menschen sind besorgt
Dass „Aenne und ihre Brüder“ gerade jetzt so viele Menschen bewegt, liegt für Beckmann auch an der aktuellen politischen Lage. Krieg war lange nicht mehr so präsent wie heute. Stichwort Ukraine. „Das ist kein Kalter Krieg mehr, das macht den Leuten Angst.“ Er beobachtet, dass viele Besucher seiner Lesungen bedrückt sind, sich nicht mehr sicher fühlen. „Wiederaufrüstung, Wehrpflicht, das weckt Erinnerungen oder schafft neue Sorgen.“
Auch die gesellschaftliche Entwicklung macht ihm zu schaffen: „Die Kunst, das Anderssein der anderen zu akzeptieren, ist verloren gegangen.“ Es gibt Reibungen, wie wir sie lange nicht kannten, und eine enorme soziale Ungerechtigkeit, betont er. Beckmann sieht in dieser Entwicklung den Nährboden für Frust und damit auch für das Erstarken der AfD. „Viele glauben, es gäbe einfache Lösungen. Aber die gibt es nicht.“
Reinhold Beckmann war 16 Jahre lang Gastgeber seiner eigenen ARD-Talkshow, davor Jahrzehnte Sportreporter. „Gestern war die Bude voll – Kumpels, Fußball, Champions League“, sagt er lachend. „Ich schaue das immer noch gern.“ Aber die Arbeit am Buch, das Schreiben über die eigene Familie, hat für ihn etwas verändert: „Das ist wie ein neuer Beruf im Alter, ein Geschenk.“
Erzählabende mit Musik
Seine Lesungen sind keine nüchternen Vorträge, sondern echte Erzählabende mit Musik. Gitarrist Johannes Wendrich begleitet ihn live mit kleinen musikalischen Intermezzi. „Der erste Teil der Lesung ist unterhaltend und sogar komisch, er behandelt die Schrulligkeiten des Dorfs“, sagt Beckmann. Aber der zweite Teil handelt vom Sterben.
In den Feldpostbriefen seines Onkels Franz entdeckte er einen dramatischen Wandel. „Am Anfang, 1939, war sogar ein wenig Euphorie. Aber ab dem Tag, als alle in Russland waren, änderte sich der Ton – er wird melancholischer, desillusionierter. Die Briefe sind ein wichtiges Zeitdokument.“ Der letzte Brief kam im Januar 1945 an. Derzeit arbeitet der Autor an der Fortsetzung des Buches. Was er sich persönlich wünscht? „Ich möchte endlich Opa werden“, sagt er mit einem Schmunzeln. Immerhin ist sein Bruder bereits fünffacher Großvater, und in den Genuss möchte er schließlich auch endlich kommen.