Waffenruhe in Gefahr
Nahost-Konflikt Die Hamas demonstriert mit Hinrichtungen brutal ihre Macht. Parallel spitzt sich der Streit zwischen Israel und der Terrororganisation um die Rückgabe der Geisel-Leichen zu.
Mehrere Männer, die Augen verbunden, knien am Boden, umringt von Zuschauern, die jubeln und pfeifen. Maskierte Vermummte, einige davon mit dem Stirnband der Hamas, richten Kalaschnikows auf die Knienden – und drücken ab. Ein Mann nach dem anderen fällt vornüber in den Staub.
Die Aufnahmen dieser Szene aus dem Gazastreifen verbreiten sich seit Montag rasant in den sozialen Netzwerken. Gegenüber der New York Times bestätigte ein Hamas-Vertreter, dass es sich dabei um eine Hinrichtung von Gegnern der Gruppe handele.
Und die Männer in dem Video sind nicht die Einzigen, die der Hamas seit dem Inkrafttreten der Waffenruhe vergangenen Freitag zum Opfer gefallen sind. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters hatte die Gruppe allein von Freitag bis Montag mindestens 32 Angehörige einer Gang in Gaza-Stadt umgebracht. Die „New York Times“ berichtet unter Berufung auf Augenzeugen von einer Schießerei zwischen der Hamas und dem Doghmosh-Clan, einer einflussreichen Großfamilie in Gaza. Auch die öffentlich Hingerichteten sollen zu dem Clan gehört haben. Die Hamas lässt verbreiten, die Opfer hätten mit Israel kollaboriert. Es ist ein Vorwurf, der nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland oft mit der Ermordung des Beschuldigten endet – ohne Anklage, ohne Beweisführung.
„Mehrere Botschaften“
Mit Blick auf die mühsam ausgehandelte Waffenruhe lässt das brutale Vorgehen der Hamas nichts Gutes hoffen. „Die Hamas sendet damit mehrere Botschaften“, erklärt Guy Aviad, ein israelischer Hamas-Experte, im Gespräch mit dieser Zeitung. „Damit signalisiert sie der eigenen Bevölkerung: Wir sind die Herrscher in Gaza, wir haben den Krieg überlebt, und wir bleiben. Die Botschaft nach außen lautet: Es gibt kein Gaza ohne die Hamas.“ Während die USA, Israel und arabische Staaten noch darüber diskutierten, wer den Gazastreifen langfristig regieren solle, „schafft die Hamas bereits Tatsachen“.
Der Friedensplan des US-Präsidenten Donald Trump visiert für Gaza eine technokratische Übergangsverwaltung an, unter Beteiligung der Palästinensischen Autonomiebehörde – aber ohne die Hamas. Außerdem sieht der Plan die Entwaffnung der Gruppe vor.
Aviad hält das jedoch für unrealistisch. „Für die Hamas ist das eine rote Linie: Sie sieht sich als Widerstandsbewegung, die ihre Waffen zur Befreiung des Heimatlandes braucht.“ Dazu komme eine reale Bedrohung durch innere Feinde: „Nicht wenige in Gaza lehnen sie ab, wollen sich vielleicht sogar rächen, weil sie die Hamas verantwortlich machen für die Zerstörung, die der Krieg über Gaza gebracht hat. Die Hamas weiß: Würde sie auf ihre Waffen verzichten, fielen ihre Mitglieder Lynchmorden zum Opfer.“
Sollte die Hamas sich aber weigern, die Waffen niederzulegen, dürfte Israel kaum dazu bereit sein, seine Truppen aus dem Gazastreifen abzuziehen. Derzeit hält Israels Armee, die IDF, noch gut 50 Prozent des Territoriums entlang der Grenze zu Israel.
Die zweite Phase des Trump-Plans sieht vor, dass eine internationale Friedenstruppe die IDF ersetzt. Doch noch ist unklar, welche Staaten dafür Soldaten beisteuern würden – insbesondere, wenn diese damit rechnen müssten, in Kämpfe mit der Hamas verwickelt zu werden. „Kein Land wird Soldaten schicken, damit sie in Gaza sterben“, ist Aviad überzeugt. „Wir sind noch sehr weit von Phase zwei entfernt.“ Und dabei ist noch nicht einmal sicher, ob die aktuelle Waffenruhe hält. Israels Regierung wirft der Hamas vor, die Abmachung über die erste Phase des Trump-Plans zu brechen, weil die Gruppe bislang nur einen Teil der insgesamt 28 Geiselleichen übergeben hat. Die Hamas gibt an, sie könne die übrigen Leichen nur mit großer Anstrengung und besonderer Ausrüstung erreichen – mutmaßlich, weil sie unter Trümmern begraben liegen.
Hamas-Experte Aviad hält das angesichts der weitreichenden Zerstörung in Gaza durchaus für plausibel. Andere wittern dahinter jedoch eine Verzögerungstaktik, darunter auch israelische Regierungsvertreter. Verteidigungsminister Israel Katz drohte am Mittwoch bereits mit einer Wiederaufnahme der Kämpfe, sollte die Hamas ihren Teil der Abmachung nicht erfüllen.