Vom Bürgerprotest zum Modell für Anwohnerbeteiligung
Reutlingen Wie die Nachbarschaft den 21 Millionen teuren Umbau des Gotteshauses zu einem Diakonischen Zentrum maßgeblich mitgestaltet hat.
Als die Evangelische Gesamtkirchengemeinde 2022 bei einem Informationsabend ihre Pläne für die Reutlinger Christuskirche vorstellte, wurde heftiger Protest laut gegen deren Umbau zu einem Diakonischen Zentrum. So vehement, dass die Verantwortlichen eine ständige Werkstatt mit Anwohnerinnen und Anwohnern einrichteten. Am Montag fand die nun ihren Abschluss mit einer Baustellenführung. Ein Nachbar war bei allen zwölf Terminen dabei und erklärt, was dieser Dialog bewirkt hat.
Im Kirchenschiff herrscht gähnende Leere: Wo früher Bänke standen, wird demnächst ein neuer Estrich aufgebracht. Der Mittelgang ist zum Schutz der bereits gereinigten Natursteine mit Sperrholzplatten abgedeckt. Die ehemalige Sakristei wird zum barrierefreien Haupteingang, der Altarraum ist verhüllt, die Orgel längst ausgebaut. Der Boden der Empore wird verstärkt für vier Büros und zwei Gemeinschaftsräume. Rund um die 1936 eingeweihte Kirche wurde für 120.000 Euro ein Gerüst aufgestellt.
Flächentausch als großer Wurf
„Ich war anfangs auch skeptisch, weil ich im Beruf erlebt habe, wie man mit Kirchen umgeht“, sagt Anwohner Johannes Rinn (61). Er ist Stadtplaner in Tübingen und wurde ausgewählt als Bürgervertreter, der den Wettbewerb ums beste Konzept begleiten sollte. Deshalb war er auch bei allen zwölf Werkstatt-Terminen dabei. „Für mich als Stadtplaner ist es spannend, mal auf der anderen Seite zu stehen.“
Von dieser anderen Seite sind die Verantwortlichen gewaltig überrascht worden. „Wir hatten mit Protesten gerechnet, aber nicht in dieser Vehemenz“, sagt Projektleiter Frank Ziegler. Im Zentrum der Kritik: Der Park vor der Kirche sollte mitsamt seinem alten Baumbestand für Wohngebäude des neuen Diakonischen Zentrums weichen. „Das war auch für mich der falsche Weg, denn der Park hat große Bedeutung für das Quartier“, erklärt Rinn.
Der Vorschlag, deshalb mit der Stadt zu verhandeln, sei aus der Bürgerschaft gekommen. Mit dem Resultat, dass durch einen Flächentausch der Park nun der Stadt gehört und erhalten bleibt. Die drei neuen Gebäude mit Sozialwohnungen wiederum werden von der Kirche zwischen ihrem ehemaligen Gotteshaus und der Hermann-Kurz-Schule gebaut. „Ich bin überrascht, wie schnell sich beide Seiten einig wurden. Das hat viel Druck aus der Debatte genommen“, davon ist der Tübinger Stadtplaner überzeugt. „Dass die Kirche auf die Proteste mit der ständigen Werkstatt eingegangen ist, hat durchaus Modellcharakter.“
Er könne nachvollziehen, dass die Kirche wegen konstant sinkender Mitgliederzahlen auf einige Gotteshäuser verzichten müsse. „Es ist gut, dass hier eine Lösung gefunden wurde nach dem Debakel mit der Leonhardskirche“, sagt Rinn. Denn für das Gebäude am Leonhardsplatz ist bis heute keine Nachnutzung gefunden worden. Ihm ist deshalb wichtig, dass die Christuskirche nicht verkauft worden ist.
„Allerdings wird sie etwas ganz anderes sein als noch vor drei Jahren. Hier wird ein Gebäude nutzbar gemacht, dessen ursprünglicher Nutzen immer weniger gefragt ist“, betont der Stadtplaner. „Neben der neuen Funktion mit Büros und Beratungsräumen des Diakonieverbands entsteht in den drei Neubauten auch Wohnraum für Menschen, die sonst kaum berücksichtigt werden.“
Allerdings klagen viele Reutlinger Chöre, dass die Konzertkirche mit ihrer guten Akustik nun für Auftritte verloren gegangen ist. „Das ist ganz sicher ein Verlust, das sehe ich auch so“, räumt Rinn ein. Aber als Stadtplaner müsse er immer mit Veränderungen umgehen. „Es ist deshalb gut zu wissen, dass es mit der Christuskirche weitergeht.“
Hohe Denkmalschutz-Auflagen
Für den 21 Millionen Euro teuren Umbau zum Diakonischen Zentrum ist Architektin Bo Rotar vom Tübinger Büro der Stuttgarter Architektenfirma Ackermann und Raff zuständig. Dabei muss sie viele Vorgaben des Denkmalschutzes umsetzen. Die sind teilweise so penibel, als ginge es um Freskenfragmente aus dem 13. Jahrhundert und nicht um Fenster, Steinböden oder Säulenputz von 1936, die jetzt in einen ganz anderen Kontext gesetzt werden. „Aber ich kann das Denkmalamt verstehen, dass es an den Zeugnissen der verschiedenen Zeitschichten festhält“, sagt die Architektin dazu.
Für sie ist es der erste Umbau einer Kirche – und vermutlich nicht der letzte. Denn ihr Architekturbüro hat auch die Ausschreibung für die Umgestaltung der Eberhardskirche in der Tübinger Eugenstraße gewonnen. Obwohl wegen der Auflagen des Denkmalamts und entsprechender Statikprüfungen immer nur Teilbaugenehmigungen erteilt werden, seien die Arbeiten im Zeitplan, sagt Projektleiter Ziegler. Und kann schon verkünden: „Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl hat seine Eröffnungspredigt für den ersten Advent am 29. November 2026 zugesagt.“