Den Albtrauf ins Stadtbild geschnitten

  • Mit „Resonanz“ überträgt Tanja Niederfeld ihr Holzschnittmotiv auf die Fassade in der Stuttgarter Straße – ein 280 Quadratmeter großes Echo der Schwäbischen Alb im Stadtraum. Bis Montag sollen die beiden Fassadenkünstler das Motiv angebracht haben. Mathias Grimm
  • Tanja Niederfeld lebt den Holzschnitt als Kunstform. Mathias Grimm
  • Fassadenkünstler Roman de Laporte nutzt die Umgebung, um sich zu orientieren und den Holzschnitt so auf die Wand zu übertragen. Mathias Grimm

Reutlingen Beim neuen Landratsamt bringt Tanja Niederfeld ihren Holzschnitt an die Wand: „Resonanz“ macht den Albtrauf zur Kunst auf 280 Quadratmetern.

Ein Strich mit der Farbrolle, dann der nächste. Auf der hellen Putzfläche der Fassade in der Stuttgarter Straße wächst ein Muster, das zunächst abstrakt wirkt: Linien, Bögen, Brüche, ein Rhythmus aus Blaugrau und Weiß. Zwei Männer stehen auf dem Hubwagen, wechseln sich ab, treten zurück, prüfen den Abstand. Unten auf dem Gehweg beobachtet Tanja Niederfeld ruhig das entstehende Werk. Ihr Entwurf, ihr Holzschnitt – nur in einer ganz anderen Dimension.

An der Fassade des neuen GSW-Gebäudes beim neuen Landratsamt entsteht ihr Werk „Resonanz“, eine Übertragung ihres Holzdruckstocks auf 280 Quadratmeter Stadtarchitektur. Gemeinsam mit den Fassadenkünstlern Roman de Laporte alias Jeroo aus Köln und Christoph Ganter alias JackLack aus Stuttgart lässt Niederfeld den Albtrauf entstehen – jene geologische Kante, die Reutlingen seit jeher begleitet und prägt.

Laut Niederfeld soll der Entwurf das Gebäudeensemble in Beziehung zur umgebenden Landschaft setzen. Der Titel „Resonanz“ verweist auf diese Verbindung zwischen Stadt und Natur. Das Werkstück in der Originalgröße von 40 Zentimetern auf 40 Zentimetern ist zudem in einer aktuellen Ausstellung in Eningen zu sehen (siehe Infokasten)

Dass Niederfeld in Schichten, Linien und Flächen denkt, hängt auch mit ihrer Ausbildung zusammen: Sie ist gelernte Stahlgraveurin, eine Arbeit, bei der Material abgetragen und Formen präzise herausgearbeitet werden. Dieses Prinzip des Reduzierens prägt auch ihre künstlerische Arbeit. In ihren Holzschnitten beschäftigt sie sich seit vielen Jahren mit der Landschaft der Schwäbischen Alb. „Für mich ist die Landschaft möbliert“, sagt sie.

Vor jedem Holzschnitt steht bei ihr eine lange zeichnerische Phase. Sie erstellt Vorzeichnungen und Skizzen, verändert und reduziert diese, bis die Komposition stimmt. Erst dann folgt der Schnitt in das Holz. Beim anschließenden Druckvorgang entstehen Unikate. Durch die Überlagerung feinster Farbschichten kommen vielschichtige Stimmungen und Tonwerte zusammen.

Für die Übertragung an die Fassade wurden die Strukturen und Linien ihres Holzschnitts vergrößert. Die beiden Fassadenkünstler arbeiten dabei mit Pinsel und Rolle. Bis zu 60 Liter Reinacrylatfarbe sollen bis Montag aufgetragen sein. Um die Orientierung auf der großen Fläche zu behalten, nutzt Roman de Laporte die Fugen und Linien der Betonplatten am Gebäuderand als Raster. Christoph Ganter beschreibt die Arbeit mit Pinsel und Rolle an der Fassade als einen Prozess, der sich vom Sprayen unterscheidet. Doch er erklärt: „Diese Form der Darstellung von Strukturen interessiert mich schon lange.“

Niederfeld begleitet das Projekt als Leiterin. Immer wieder betrachtet sie das Werk aus der Distanz, um den Gesamteindruck zu prüfen. Aus der Nähe wirken die Flächen abstrakt, aus der Ferne ist die Silhouette des Albtraufs bereits zu erkennen. Ziel sei, so Niederfeld, dass das Werk am Ende so wirke, als wäre das Abbild des Albtraufs in die Fassade selbst eingeschnitten.

Begrünung scheiterte

Ursprünglich war an der Fassade, die aufgrund des Schallschutzes keine Fenster hat, eine Begrünung geplant gewesen, erklärt Roy Lilienthal, Geschäftsführer der GSW Wohnungsbaugesellschaft Sigmaringen. Wegen der aufwendigen Pflege und der nötigen Sperrungen des Zugangs zur Tiefgarage habe man sich jedoch für die dauerhafte künstlerische Lösung entschieden. „Ein Kunstwerk aus der Region, das die Verbindung zur Landschaft sichtbar macht, war naheliegend“, sagt Lilienthal.

Sprayer, die auch malen

Niederfeld fand ihre beiden Mitstreiter über ein Graffiti-Festival in Stuttgart, wo sie gezielt nach Künstlern suchte, die sich großflächig und präzise auf Wänden malerisch ausdrücken können - trotz des Hintergrunds mit der Spraydose. Für sie ergänzt die Zusammenarbeit ihre eigene Arbeit im Atelier um eine neue Dimension – die Übertragung des Holzschnitts in den öffentlichen Raum. Mit „Resonanz“ führt Niederfeld eine lange Reutlinger Tradition fort: Der Holzschnitt hat in der Stadt eine besondere Bedeutung, nicht zuletzt durch Künstler wie HAP Grieshaber. Niederfeld steht in dieser Linie, interpretiert die Technik aber zeitgenössisch – als langsamen, handwerklichen Prozess zwischen Abstraktion und Landschaft. Und der wird ab Montag großflächig in der Stadt zu sehen sein.

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