Roman

  • Cover Klett-Cotta, Stuttgart

Ein paradoxes Ding, das einerseits in die Zukunft weist, andererseits archaischer kaum sein könnte. Zuletzt ist Lothar auf der Wasserkuppe mit etwas so Primitivem geflogen. Im Grunde ist auch die Natter ein Segelflieger. Ein Segelflieger, der in nur anderthalb Minuten mit einem Maximalschub von siebentausend Pferdestärken die Schallmauer durchschlägt, eine Dienstgipfelhöhe von vierzehn Kilometern und beinahe die Grenze zum Weltraum erreicht. Dort oben bleibt ihm ein Radius von vierzig Kilometern, um sich hinter die einfliegende Bomberflotte zu platzieren. Und seine vierundzwanzig Föhnraketen abzufeuern, wabenförmig angeordnet im stumpfen Bug der Natter. Schuss aus einer mit Schallgeschwindigkeit fliegenden Schrotflinte. Die Feinde werden nicht einmal ahnen, was sie da trifft. Schnell werden dann die Triebwerke ausbrennen. Dann wird die Natter von der Rakete zum Segelflieger. Geht in einen unbeholfenen Gleitflug, Sinkflug. Und dann ist es Zeit für den Ausstieg mit dem Fallschirm.

Vom Beobachtungsbunker aus ertönt das verabredete Signal. Zwei Hitlerjungen in der Uniform von Luftwaffenhelfern warten am Fuß der Leiter. Bachem schiebt den Ärmel seines Ledermantels zurück: „Es ist so weit, Herr Sieber. Wie sagt der Flieger? Glück ab!“

Der Konstrukteur zündet sich eine weitere Zigarette an. Lothar bemerkt, dass seine Hände zittern.

Er setzt die Fliegerhaube auf: „Glück werden wir nicht brauchen.“

Bachem nickt, gewiss, gewiss, schaut sich kurz um und dann Lothar direkt in die Augen: „Herr Oberstleutnant, auf ein Wort von Mann zu Mann! Sie wissen, dass das Gerät nicht ausreichend erprobt ist. Und das Wetter könnte besser sein. Unter normalen Umständen … wie soll ich sagen? Ginge es nach mir, würde ich da noch keinen Menschen reinsetzen. Es geht aber nicht nach mir. Also … nach meinen Berechnungen kann es sein, dass die Natter gleich nach dem Start in Rückenlage kommt. Wenn das in der Wolkendecke passiert, verlieren wir vielleicht die Orientierung. Dann wäre es wichtig, über die Seitenruder durch eine leichte Drehung …“

Lothar legt ihm die Hand auf die Schulter: „Herr Bachem, im Laufe des Krieges habe ich schon riskantere Sachen gemacht. Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue. Wir sehen uns später.“

Heuberg, den 28. II. 1945

Letztwillige Verfügung

Anlässlich des am 1. III. 45 stattfinden sollenden Starts sehe ich mich veranlasst, einen letzten Willen festzulegen. Ich erkläre ausdrücklich, dass alle anderen letztwilligen Verfügungen, die ich im Laufe meiner Dienstzeit geschrieben habe, hierdurch ungültig sind, soweit sie nicht Punkte betreffen, die ich wegen der Kürze der Zeit hier aufzuführen vergesse.

Ich erkläre meinen Willen, dass meiner Braut Fräulein Gesine von Wieland, geb. am 24. IV. 1921, durch nachträgliche Eheschließung mein Name und die ihr dadurch gesetzlich zustehenden Rechte gegeben werden. Die Vaterschaft eines Kindes, das in der Zeit bis zum 1. II. 1946 geboren werden sollte, erkenne ich an.

Meine gesamten Sachen, die sich hier und in Waldsee befinden, vermache ich meiner Braut, der es über­lassen bleibt, meiner Mutter einige Erinnerungsstücke zu geben.

Mein Postsparbuch; Nr. 2.01 625, sowie alles in meinem Besitz befindliche Bargeld vermache ich ebenfalls meiner Braut. Über das Konto bei meiner Mutter, Frau Merle Sieber, soll meine Mutter selbst verfügen können. Schulden habe ich keine! Meine anderen Privat­sachen befinden sich bei der 2./I./KG 200 Finow / Mark Brandenburg, 53 024 LGT Berlin.

Lothar Sieber

Und finster plötzlich wird

der Himmel

Jetzt ist auch über Ginsterburg die Achse des Krieges aus der Horizontalen in die Vertikale gekippt. Das Firmament ist Front geworden. Das Unheil nicht länger ein Heerlager vor den Mauern, ein Wetterleuchten ferner Front oder ein Bericht in der Wochenschau. Der Krieg ist ein unablässiger Strom von Bombern.

Fortsetzung folgt

© Klett-Cotta, Stuttgart

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